"Es gab außer kurzem Gras nichts zu sehen, alles sah gleich aus; weit entfernt sahen wir eine gerade Linie - den Horizont. Am späten Nachmittag, als wir bereits sehr müde waren, gelangten wir zu unserer großen Überraschung an den Ort zurück, wo wir in der vergangenen Nacht kampiert hatten und von wo aus wir am Morgen losgegangen waren. Wir waren nach links und wohl den ganzen Tag lang im Kreis gelaufen." Wenn dichter Nebel aufkommt oder wenn man eine Sand- oder Schneewüste durchquert, verliert man leicht die Orientierung. Dann ist die Gefahr groß, dann es einem so ergeht wie dem großen Indianer-Maler George Catlin im 19. Jahrhundert in der amerikanischen Prärie - man läuft im Kreis.
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Doch weil sich auch das Orientierungssystem stetig in dieselbe Richtung verschiebt, hat man die ganze Zeit über das Gefühl, schnurgeradeaus zu gehen. Wenn man dann in Panik gerät, läuft man immer schneller, die Kreise werden immer enger, und am Ende landet man wieder dort, von wo aus man aufgebrochen ist.
Für dieses merkwürdige Phänomen wird oft der Körper verantwortlich gemacht. Angeblich macht er sich selbständig und übernimmt das Ruder, sobald der Orientierungssinn versagt. Und da der Körper nicht völlig symmetrisch gebaut ist - in aller Regel ist ein Bein ein wenig kräftiger oder länger als das andere, ein Arm etwas stärker als der andere - soll er dazu neigen, ständig nach der einen oder anderen Seite abzuweichen. Inzwischen weiß man allerdings, dass diese Erklärung nicht stimmen kann.
Kein genereller Drall
Denn zum einen haben Experimente ergeben, dass es allein vom Zufall abhängig ist, ob jemand nach links oder rechts ausschert. Bei ein und denselben Testpersonen, die mit verbundenen Augen geradeaus laufen sollten, war manchmal ein Links-, manchmal ein Rechtsdrall zu beobachten. Was zum anderen gegen die herkömmliche Theorie spricht, ist ein Umstand, den die Angehörigen von Jäger-Sammler-Kulturen noch gut kennen: Nicht nur Menschen, auch Pferde, Hirsche, Elche und viele andere Tiere haben die Angewohnheit, sich weniger geradlinig als in leichten Kurven vorwärts zu bewegen. Und sie bewegen sich im Kreis, wenn sie aus irgendeinem Grund die Orientierung verloren haben - oder wenn sie von einem Raubtier verfolgt werden.
Evolutionstheorie
Was also veranlasst Menschen und Tiere dazu, im Kreis zu laufen, und warum hat die Evolution ihnen diese schlechte Angewohnheit nicht schon längst ausgetrieben? Hierauf, behauptet der schwedisch-amerikanische Navigationsexperte Erik Jonsson, gibt es nur eine schlüssige Antwort: Das Im-Kreis-Laufen ist ein Mechanismus, den die Evolution irgendwann selbst hervorgebracht hat. Seine Funktion besteht darin, das Überleben in einer feindlichen Umwelt wahrscheinlicher zu machen. Er gewährleistet nämlich, dass Säugetiere, die etwa im dichten Nebel vom Weg abgekommen sind oder die Hals über Kopf vor einem Angreifer fliehen müssen, immer wieder dorthin zurückkehren, wo sie sich am besten auskennen und wo sie sich am sichersten fühlen können: in ihrem eigenen Territorium.
Überforderter Navigator
Unter normalen Umständen, erklärt Jonsson, laufen weder Menschen noch Tiere konstant geradeaus, sondern erlauben sich immer wieder Abweichungen vom direkten Kurs. Diese Abweichungen werden jedoch von ihrem inneren Navigator unablässig registriert und korrigiert. Der innere Navigator ist allerdings schnell überfordert, wenn er in der Außenwelt nicht die markanten Merkmale findet, die er für die Kursbestimmung braucht. Und er arbeitet schlecht oder setzt völlig aus, wenn er unter Erschöpfung, Stress oder Panikattacken zu leiden hat. In solchen Krisensituationen kann er die Kursabweichungen nicht mehr korrigieren - und das Tier oder der Mensch bewegt sich jetzt spiralenförmig vorwärts.
Ein Europäer, der sich in einer Wüstenregion verirrt hat, hat offensichtlich nicht viel davon, wenn er dauernd im Kreis läuft und deswegen nicht vom Fleck kommt. Selbst schuld, sagt Jonsson. Dass der Mensch einmal zum Globetrotter werden würde, konnte die Evolution unmöglich voraussehen. Und deshalb hat sie ihn mit einem Orientierungssinn ausgerüstet, der an ein eng begrenztes Gebiet angepasst ist: an die Umgebung, mit der man am intimsten vertraut ist, weil man in ihr aufgewachsen ist.
Der Nomaden-Sinn
Es gibt Menschen, deren Orientierungssinn dermaßen präzise funktioniert, dass sie sich mit traumwandlerischer Sicherheit überall zurechtfinden. Und es gibt Menschen, deren räumliches Vorstellungsvermögen dermaßen dürftig ist, dass sie sich ständig verirren. Einer dieser bedauernswerten Geschöpfe war der französische Ingenieur und Wissenschaftler Victor Cornetz, der vor hundert Jahren im Algerien und Tunesien als Landvermesser tätig war.
Cornetz hatte sich zwar auf die Erforschung der Orientierungsfähigkeiten von Menschen und Ameisen spezialisiert. Aber er selbst hatte schon Schwierigkeiten damit, in fremden Wohnungen den Weg zurück zum Eingang zu finden, und in der Einöde der Sahara war er ohne Karte und Kompass völlig aufgeschmissen. Zum Glück hatte er einheimische Führer, die den Adari-Nomaden angehörten.
Die Adari leben am Nordrand der Sahara, auf einer langgestreckten Sandebene, wo es weder Felsen noch Dünen, sondern nur unzählige, voneinander kaum unterscheidbare Grashügel gibt. Diese Grashügel stehen aber dicht beieinander und sind hoch genug, um die Sichtweite auf weniger als hundert Meter schrumpfen zu lassen. Die Adari stört das allerdings wenig, und es ist für sie ein Leichtes, auf dem kürzesten Weg jeden Ort in der Wüste zu erreichen, den sie erreichen wollen. Wie die Adari das anstellen, ist ihnen selbst ein Rätsel. Jonsson vermutet, dass sie schon in früher Kindheit damit anfangen, sich eine minuziöse geistige Karte ihrer unmittelbaren Umgebung anzulegen und sich außerdem die Stellung der Sonne zu jeder Tages- und Jahreszeit sorgfältig einzuprägen.
Indem nun die Adari ihre geistige Karte immer wieder aktualisieren und am Stand der Sonne ablesen, welche Richtung sie einzuschlagen haben, gelingt es ihnen, Hunderte von Kilometern zurückzulegen, ohne dabei mehr als zwei Grad vom Kurs abzukommen. Ist aber die Sonne nicht zu sehen, nutzen sie den Wind, der bei ihnen fast immer aus derselben Richtung kommt, für die Bestimmung ihrer Position.
Ursache Arbeitsteilung?
Doch warum müssen sich viele Menschen mit einem miserablen Orientierungssinn abplagen? Wahrscheinlich deswegen, weil die gesellschaftliche Arbeitsteilung eine der ältesten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte ist und es von Anfang an neben Spezialisten für Werkzeugherstellung, Jagd, Psychotherapie oder Entertainment auch solche fürs Spurenlesen und für anspruchsvolle Orientierungsaufgaben gegeben haben dürfte. Hinzu kommt, dass GPS-Navigationssysteme und jede Menge andere technische Hilfsmittel dem Orientierungssinn mehr und mehr Arbeit abnehmen. Er verkümmert aber, wenn er nicht regelmäßig benutzt und trainiert wird. Und schließlich: Das menschliche Orientierungssystem ist auf die Fortbewegung auf zwei Beinen zugeschnitten. Werden zu große Entfernungen in zu hohem Tempo zurückgelegt, tut es sich ziemlich schwer.
Rätselhafte Frauen
Das Orientierungsvermögen des Menschen ist noch wenig erforscht. Nach wie vor ist nicht geklärt, ob er über einen magnetischen Sinn verfügt. Und man weiß auch nicht genau, welche Auswirkungen das Geschlecht auf die Orientierungsfähigkeiten hat. Nicht zu bestreiten ist nur, dass Frauen bei Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen im Durchschnitt schlechter abschneiden als Männer. Doch die Annahme, dass diese Unterschiede von den Genen, den Sexualhormonen oder der geschlechtlichen Arbeitsteilung während der Altsteinzeit herrühren, ist alles andere als zwingend.
Denn auch das hat sich inzwischen herausgestellt: Die Orientierungsvirtuosen unter den Männern und Frauen wenden exakt die gleichen Strategien an, und dasselbe gilt für die Frauen und Männer, deren Orientierungsleistungen am miserabelsten sind. Das deutet darauf hin, dass Frauen nicht den schlechteren Orientierungssinn geerbt haben, sondern dass sie ihn nur zu wenig gebrauchen und ihm und sich selbst zu wenig zutrauen.
"Gedrehter" Raum
Man weiß auch nicht genau, was es mit diesem Phänomen auf sich hat: Man schreckt nachts aus dem Schlaf auf und hat plötzlich das Gefühl, dass sich der Raum um 180 Grad gedreht hat. Man vermutet, dass es zu dieser Täuschung kommt, wenn man sich im Traum in einer Richtung bewegt hat, die der genau entgegengesetzt ist, in der man im Bett liegt. Diese Hypothese hat einiges für sich. Sie beantwortet aber nicht die Frage, warum dieses Phänomen nicht viel öfter auftritt. Aber Menschen sind eben verschieden. Wie verschieden, zeigt sich gerade darin, wie sie sich in der Welt orientieren.