Ohne markante äußere Merkmale ist der innere Navigator schnell überfordert.
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Berlin. "Es gab außer kurzem Gras nichts zu sehen, alles sah gleich aus; weit entfernt sahen wir eine gerade Linie - den Horizont. Am späten Nachmittag, als wir bereits sehr müde waren, gelangten wir zu unserer Überraschung an den Ort zurück, wo wir in der vergangenen Nacht kampiert hatten und von wo aus wir am Morgen losgegangen waren. Wir waren nach links und wohl den ganzen Tag lang im Kreis gelaufen."
Wenn dichter Nebel aufkommt oder man eine Sand- oder Schneewüste durchquert, verliert man leicht die Orientierung. Dann kann es einem so ergehen wie dem großen Indianer-Maler George Catlin im 19. Jahrhundert in der amerikanischen Prärie: Man läuft im Kreis. Da sich auch das Orientierungssystem stetig in dieselbe Richtung verschiebt, hat man die ganze Zeit über das Gefühl, geradeaus zu gehen. Gerät man dabei in Panik, läuft man immer schneller, die Kreise werden enger, und am Ende landet man wieder dort, von wo aus man aufgebrochen ist.
Nur 20 Meter geradeaus
Für dieses merkwürdige Phänomen werden mitunter körperliche Asymmetrien, wie etwa unterschiedlich lange oder kräftige Beine und Arme oder die Dominanz einer Gehirnhälfte verantwortlich gemacht. Dass solche Erklärungen nicht stimmen können, ergibt sich eindeutig aus den Experimenten des niederländischen Psychologen Jan Souman und seiner Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen. Die Wissenschafter schrieben darüber im Fachjournal "Current Biology".
In einem Experiment sollten Versuchspersonen mit verbundenen Augen eine kurze Strecke geradeaus gehen, doch alsbald liefen sie alle im Kreis. Dabei spielte die Beinlänge keine Rolle, denn bei denselben Personen war mitunter ein Rechts- oder Linksdrall zu beobachten. Ihre Laufrichtung änderte sich auch nicht, wenn man ihnen Schuhe mit verschieden hohen Sohlen gab.
Mit Hilfe von GPS-Empfängern wurden auch Laufwege von Testpersonen in natürlicher Umgebung verfolgt, teils in der tunesischen Sahara, teils in einem Wald im Rheintal. Die Probanden sollten sich mehrere Stunden möglichst gerade vorwärts bewegen - bei Tag und bei Nacht. Das verblüffende Resultat: Die Testpersonen schafften es aber nur dann, in halbwegs geraden Bahnen zu gehen, wenn sie Sonne oder Mond zur Orientierung verwenden konnten. Sonst bewegten sie sich in chaotischen Kurven und trafen immer wieder ihre eigenen Spuren. Am Ende wurde den Probanden abverlangt, mit verbundenen Augen auf freiem Feld geradeaus zu laufen. Keiner schaffte mehr als 20 Meter, ohne vom Kurs abzukommen. Schließlich liefen alle im Kreis, ohne sich mehr als 100 Meter von ihrem Ausgangspunkt zu entfernen.
Souman vermutet, dass es für das Im-Kreis-Laufen eine simple Erklärung gibt: Die Richtungsinformationen, die das Gehirn durch die Sinnesorgane erhält, sind oft ungenau. Werden kleine Ungenauigkeiten nicht frühzeitig korrigiert, verwandeln sie sich in große. "Wir können den Sinneseindrücken aus Augen, Ohren und Gleichgewichtsorganen nicht bedingungslos vertrauen", sagt er: "Vielmehr nutzen wir zusätzliche äußere Orientierungshilfen wie beispielsweise Berge, Sonne oder Gebäude, mit denen unsere Wahrnehmung abgeglichen und gegebenenfalls korrigiert wird."
Eine andere Theorie beruft sich auf einen Umstand, den man in Jäger-Sammler-Kulturen noch gut kennt: Nicht nur Menschen, auch Pferde, Hirsche, Elche und viele andere Tiere haben die Angewohnheit, sich in leichten Kurven vorwärts zu bewegen. Und sie bewegen sich im Kreis, wenn sie die Orientierung verloren haben oder ein Raubtier sie verfolgt. Nach Meinung des schwedisch-amerikanischen Navigationsexperten Erik Jonsson ist das Im-Kreis-Laufen ein Mechanismus, den die Evolution hervorgebracht hat. Er gewährleistet, dass Säugetiere, die im dichten Nebel vom Weg abgekommen sind oder Hals über Kopf vor einem Angreifer fliehen müssen, immer wieder dorthin zurückkehren, wo sie sich am sichersten fühlen können: in ihrem eigenen Territorium. Unter normalen Umständen, so Jonsson, laufen weder Menschen noch Tiere konstant geradeaus, sondern weichen immer wieder vom direkten Kurs ab. Diese Abweichungen werden von ihrem inneren Navigator unablässig registriert und korrigiert. Der innere Navigator ist aber schnell überfordert, wenn er in der Außenwelt nicht die markanten Merkmale findet, die er für die Kursbestimmung braucht. Und er arbeitet schlecht oder setzt völlig aus, wenn er unter Erschöpfung, Stress oder Panikattacken zu leiden hat.
Jüngst haben die Neurowissenschafterin Emma Brestaven und ihre Kollegen Etienne Guillaud und Jean-René Cazalets von der Universität Bordeaux aufschlussreiche Experimente durchgeführt. Sie berichten darüber im Fachjournal "PloS ONE". In einer riesigen Halle sollten 15 Testpersonen mit verbundenen Augen möglichst weit geradeaus laufen. Das gelang aber nur bei 11 Prozent der Läufe einigermaßen, bei 50 Prozent war ein Linksdrall, bei 39 ein Rechtsdrall zu beobachten. Eine Messung der Aktivitäten etlicher Muskeln in den Beinen und im Rumpfbereich ergab, dass biomechanische und anatomische Unterschiede wenig erklären. Außerdem kam zutage, dass der Grad der Kursabweichungen bei denselben Personen von Lauf zu Lauf erheblich variieren kann.
Statistischer Zusammenhang
Bestaven und ihr Team versuchten zu klären, ob die Abweichungen etwas mit dem Gleichgewichtssinn zu tun haben könnten. Mit Hilfe einer Messplattform wurde untersucht, wie stark die Probanden jeden Fuß beim entspannten Stehen belasteten. Man stieß auf einen signifikanten statistischen Zusammenhang: Über 80 Prozent der Testpersonen, die zum Linksdrall geneigt hatten, übten mehr Druck mit dem linken Fuß aus, und 70 Prozent derjenigen mit Rechtsdrall belasteten den rechten Fuß stärker. Emma Bestaven schließt daraus, dass Menschen auch deshalb im Kreis laufen, weil ihr Gleichgewichtssinn ungenau arbeitet. Aber diese Hypothese muss noch empirisch überprüft werden.