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Warum wird die Religion so gern traktiert?

Von Raphael M. Bonelli

Gastkommentare

Heute wird Religion gerne als Defekt abgewertet. Man muss nicht weiter argumentieren, wenn man Gläubige als minderwertig darstellt. Moderne Psychodynamik versteht das als latente Aggression.


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Woher kommt diese negative Haltung gegenüber der Religion? Der Neurowissenschafter Joachim Bauer erklärt, dass jeder Aggression ein psychischer Schmerz vorausgeht und sie somit dessen Abwehr dient. Das deckt sich mit dem Phänomen der narzisstischen Kränkung, die einen zumeist unbewussten Vorgang bezeichnet, der in einer irrationalen und oftmals unkontrollierten Aggression gegenüber dem "Kränker" mündet.

Gefährdet sind insbesondere Menschen, bei denen sich eine starke Diskrepanz zwischen idealisiertem Selbstbild und Realität entwickelt hat. Bedrohlich wird besonders der Hinweis auf die Wirklichkeit empfunden, da die Wahrheit über sich selbst als schmerzhaft mit Mühe ins Unterbewusstsein verdrängt wird.

Aus diesem Blickwinkel ergeben sich drei narzisstische Kränkungen der Postmoderne, die die irrationalen antireligiösen Affekte mancher Zeitgenossen erklären könnten:

* Die erste Kränkung ist die unübersehbare Lebendigkeit der totgehofften Religion. Vor 150 Jahren verkündete Friedrich Nietzsche stolz, dass Gott tot sei. Angesichts des weltweiten Booms des Religiösen muss man jedoch ganz trocken konstatieren, dass er sich da wohl geirrt hatte. Entgegen den mainstreamigen Verkündigungen ordnen sich weltweit immer mehr junge und gebildete Menschen einem transzendenten Prinzip unter, statt sich dem Zeitgeist willig zu unterwerfen.

* Noch viel schmerzhafter, weil bedrohlicher, wird aber die moralische Instanz erlebt, die den Glaubensgemeinschaften innewohnt. Die heutzutage gehandelten alternativen Ethikangebote sind farblos und inhaltsleer - und damit beliebig, verbiegbar und schmerzfrei. Sie dienen höchstens zur billigen Selbsterhöhung. Dafür steht ein wahrhafter Gottesglaube nicht zur Verfügung.

Die monotheistischen Religionen degradieren den selbst zu Gott gewordenen modernen Menschen zum Geschöpf und nehmen ihn mit unmanipulierbaren Normen in die Pflicht. Damit decken sie seine verdrängte Schuld auf, weil sie mit ihren Geboten den Finger in seine Wunde legen. Es kränkt ihn, nicht unfehlbar zu sein und sich verantworten zu müssen.

* Für die dritte Kränkung des antireligiösen Menschen hilft ein Bild aus der innerfamiliären Psychodynamik: die eifersüchtige Aggression manches Pubertierenden auf jüngere Geschwister, die sich deswegen notgedrungen mit den Eltern verbündet haben. Denn der ambivalente Halbwüchsige sehnt sich nach der elterlichen Liebe, die er ausschlägt.

Analog dazu empfindet der Antireligiöse Neid und Eifersucht darüber, dass der Gläubige bei Gott Liebe, Sicherheit und Geborgenheit findet, jedoch er selbst sich einsam durch die graue und grausame Welt schlagen muss.

Die Kränkung besteht darin, gottlos zu sein, obwohl man sich unbewusst nach Transzendenz sehnt. Kain hat aus diesem Grund Abel erschlagen.

Raphael M. Bonelli ist Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut und Tagungsleiter der Fachtagung "Das Unbehagen mit der Religion. Islamophobie und andere Phänomene" (18. Juni 2011, Wiener

Moschee,www.rpp2011.org).