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Welche Bedürfnisse hat der Mensch? Was braucht er, um sie zu befriedigen? Sind Bedürfnisse eine rein materielle Angelegenheit? – Eine endgültige Antwort auf diese Fragen wird es kaum jemals geben, doch es lohnt sich, sie immer wieder aufs Neue zu stellen. Und dabei helfen die Theorien, die der Psychologe Abraham Maslow entwickelt hat.
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Wie viele bedeutende Forscher der USA war Abraham Harold Maslow (1908-1970) das Kind von Immigranten. Seine Eltern, russische Juden, die das Zarenreich verlassen hatten, zogen in Brooklyn unter ärmlichen Verhältnissen sieben Kinder groß. Abraham, der Älteste dieser sieben, beschrieb seine Kindheit als unglücklich und einsam. Später studierte er auf Wunsch des Vaters zunächst Jus, wechselte jedoch zur Psychologie. In zahlreichen Aufsätzen und Büchern sollte er im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens die Humanistische Psychologie begründen, eine Schule, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg populär wurde und sich nach zwei Seiten hin abzugrenzen suchte: Auf der einen Seite von der Psychoanalyse in der Tradition von Sigmund Freud, die ihre Theorien anhand von psychischen Erkrankungen entwickelt hatte. Auf der anderen Seite von der nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst populären Strömung des Behaviourismus, der menschliches Verhalten vor allem äußerlich, anhand von messbaren Daten im Stil der Naturwissenschaften zu studieren versuchte.
Maslows Theorien und vor allem seine Studien zu den Begriffen "Motivation" und "Bedürfnis" gehören heute zwar längst zum elementaren Rüstzeug der Betriebswirtschaft, doch sollte man den Anspruch nicht vergessen, der im Vorwort von "Motivation und Persönlichkeit" formuliert wird, nämlich "ein neues Menschenbild" schaffen zu wollen, eine "allgemeine und umfassende Lebensphilosophie", "eine neue humanistische Weltanschauung", also keineswegs einfach ein praktisches Kompendium der Menschenführung oder – vielleicht noch schlimmer – der Manipulation.
Berühmt wurde Maslows Einteilung der menschlichen Bedürfnisse in mehrere Stufen, die später oft in einer Pyramide dargestellt wurden, obwohl sich diese Darstellung in "Motivation und Persönlichkeit" nicht findet. Sie beginnt bei ganz elementaren körperlichen Vorgängen und führt zu äußerst anspruchsvollen geistigen Angelegenheiten. Es ist wahrscheinlich eine der großen Leistungen der Humanistischen Psychologie, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert geistige und körperliche Vorgänge als Teil eines Ganzen verstanden zu haben.
Die Liebe der Meute
Die Darstellung beginnt mit den elementaren physiologischen Bedürfnissen des Körpers, dessen elementare Funktionen sich über das Gefühl des Hungers selbst zu regeln versuchen, so "dass Appetit (bevorzugte Nahrung) einen ziemlich guten Hinweis auf die tatsächlichen Bedürfnisse oder Mängel des Körpers" gebe. Wobei Maslow bereits an dieser Stelle darauf hinweist, dass diese "physiologischen Bedürfnisse und das konsumierende Verhalten, das mit ihnen verknüpft ist, als Kanäle für alle möglichen anderen Bedürfnisse dienen können", dass sich also zum Beispiel unbefriedigte Bedürfnisse einer anderen Ebene als einfacher körperlicher Hunger ausdrücken können. Auf der anderen Seite verhält es sich nach Maslow so, dass der Mensch erst dann höhere Bedürfnisse entwickeln kann, wenn die niedrigeren Bedürfnisse befriedigt sind. "Für den, der äußerst hungrig ist, existieren keine anderen Interessen als Nahrung."
Andrerseits entstehen, so Maslow, sofort "andere (und höhere) Bedürfnisse", sobald die der elementaren Stufe befriedigt sind. Auf einer zweiten Ebene siedelt er "das Sicherheitsbedürfnis" an, ein Bedürfnis, dem im Europa nach der Wirtschaftskrise ganz neue Bedeutung zukommt. Genauso wie sich Kinder nach geregelten Verhältnissen und Routinen sehnen, zeigen auch Erwachsene, so Maslow, in "Situationen des sozialen Chaos, der Revolution oder des Zusammenbruchs der Autorität" ähnliche Bedürfnisse nach Stabilität. Und er fügt hinzu: "Die Tendenz zu einer Religion oder Weltanschauung, die Ordnung ins Universum bringt und die Menschen darin zu einer Art zufriedenstellendem, zusammenhängendem sinnvollem Ganzen werden lässt, wird ebenfalls zum Teil von Sicherheitsbedürfnissen motiviert."
Wenn eine Gesellschaft stabil genug ist, um auch das Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen, dann zeigt sich Maslow zufolge ein drittes Bedürfnis, das nach "Zugehörigkeit und Liebe", oder, nüchterner formuliert, "unsere zutiefst animalische Neigung zur Herde und Meute". Gerade die "Mobilität der Industrialisierung" wie sie Maslow in den USA der sechziger Jahre beobachten konnte, erzeuge einen "unbefriedigten Hunger nach Kontakt, Intimität, Zugehörigkeit".
Um vieles individueller sind bereits die Bedürfnisse der nächsten Stufe, die Maslow anführt, der vierten, in denen es um die Wertschätzung der Person geht. Dazu zählt er sowohl das "Bedürfnis nach Stärke, Leistung, Bewältigung und Kompetenz", als auch den "Wunsch nach einem guten Ruf oder nach Prestige", also "nach Status, Berühmtheit und Ruhm, nach Dominanz, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Bedeutung, Würde oder Wertschätzung". Die Befriedigung dieser Bedürfnisse führe zu "Gefühlen des Selbstvertrauens", ihre Frustrierung zu "Gefühlen der Minderwertigkeit, der Schwäche und der Hilflosigkeit".
Das flüchtige Glück
Da aber, wie man bei Maslow lernen kann, die Befriedigung jedes Bedürfnisses häufig zur Entstehung eines neuen führt, wird man, wenn die Ansprüche dieser ersten vier Stufen befriedigt sind, "erwarten können, dass neue Unruhe entsteht, wenn der Einzelne nicht das tut, wofür er als Individuum geeignet ist". Maslow spricht in diesem Zusammenhang in einer fünften Stufe von dem "Bedürfnis nach Selbstverwirklichung" und verwendet eine einprägsame Formulierung: "Was ein Mensch sein kann, muss er sein." Womit allerdings eine Vielzahl von Tätigkeiten und Lebensformen gemeint ist: "In einem Fall kann es das Verlangen sein, eine ideale Mutter zu sein, in einem anderen wird es sich athletisch ausdrücken oder im Malen von Bildern oder in Erfindungen."
In der späten Fassung von "Motivation und Persönlichkeit" aus dem Jahr 1970 erwähnt Maslow auch noch ausdrücklich zwei weitere Bedürfnisebenen, die der "kognitiven Antriebe", also ein Verlangen nach Wissen und Verstehen, sowie ästhetische Bedürfnisse. Er weist darauf hin, "dass die kognitiven Fähigkeiten (Wahrnehmung, Intellekt, Lernen) Anpassungsinstrumente sind, die unter anderem auch die Aufgabe haben, auch unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen", und dass deswegen "jede Blockierung ihrer freien Anwendung" als bedrohlich erlebt werden kann. Eine solche Blockierung, die auch in mit Wohlstand gesegneten Milieus beobachtet werden kann, erzeugt Symptome wie Langeweile oder Verlust der Lebensfreude, gegen die nach Maslow eine sinnvolle Betätigung der eigenen Fähigkeiten die beste Therapie ist.
Aber egal auf welcher Ebene man sich mit Bedürfnissen und deren Befriedigung befasst, Maslow fordert ein Überdenken der Idee vom Glück: "Kurz gesagt, was ich beobachtet habe, ist die Tatsache, dass die Befriedigung von Bedürfnissen nur zu einem vorübergehenden Glückszustand führt, dem seinerseits eine weitere und (hoffentlich) höhere Unzufriedenheit folgt."
<p class="em_text">Erschienen im "Wiener Journal" vom 1. März 2013
BUCHTIPP:
Abraham H. Maslow: "Motivation und Persönlichkeit". Deutsch von Paul Kruntorad. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 395 Seiten