"Computational Thinking" ermöglicht effizientes Denken und Erkennen von Strukturen. | Das Internet verändert die Gehirn-Aktivität. | Wien. Eine der ersten Maschinen, die an einen Computer erinnern, war der sogenannte Schachtürke. Der österreichisch-ungarische Universalgelehrte und Erfinder Wolfgang von Kempelen konstruierte den Schach- und Trickautomaten im Jahr 1769.
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Der Schachtürke erregte europaweites Aufsehen, als Kempelen ihn in den Städten vorgeführte. Er gilt als technisches Meisterwerk, obwohl die orientalische Puppe von einem versteckten Menschen dank Hebel und Magnettechnik bedient wurde - was die Zuschauer natürlich nicht wussten. Nach einer Etymologie für den Begriff "getürkt" (gefälscht, vorgetäuscht) soll dieser sich von Kempelens Schachtürken herleiten.
Seit den magnetischen Experimenten des 18. Jahrhunderts hat sich die Welt um 180 Grad verändert. Heute stehen in rund 80 Prozent der Haushalte allein in Österreich und Deutschland Computer auf der Basis von Chips und Leiterplatten. Rund 70 Prozent der Haushalte in beiden Ländern haben Zugang zum Internet. Das Netzwerk Facebook feierte kürzlich seinen 500-millionsten User. Ein großer Teil unserer Welt besteht aus Null und Eins.
Mit dem Computer betreibt die Menschheit etwas intensiv, was völlig anders ist als sie selbst. Wird sie dabei getürkt? Trickst uns der Computer in die Angst, dass wir so werden müssen wie er, weil sein Programm genau eingrenzt, wie er zu bedienen ist und keine Anflüge von Individualität, keine Marotten zulässt? Vor allem: Wie prägt die alles übergreifende Computernutzung das Denken und unser Gehirn?
Denken und funktionieren
Aus Sicht der US-Computerwissenschafterin Jeannette Wing sind Auswirkungen und Nutzen durchaus positiv. Ihr zufolge bietet die Welt der Computer den Menschen die Möglichkeit zu neuen Denkübungen: Wer analytisch und präzise wie ein Computerwissenschafter zu denken lernt, kann in der Folge alle Arten von komplexen Problemen effizienter lösen. Vom mentalen Hilfsmittel des "Computational Thinking" können Menschen in allen Lebensbereichen profitieren, sagt die Leiterin des Computer Science Department der Universität Pittsburgh, die diese Woche am Institute für Science and Technology Austria in Maria Gugging referierte.
Dabei müssen wir aber keineswegs lernen, so wie Computer zu denken geschweige denn zu sein, betont die Expertin: "Computer funktionieren ganz anders als Menschen. Sie können nicht denken wie wir und wir nicht funktionieren wie sie." Derartige Ängste können wir uns also gründlich abschminken.
Neue Muster, wo keine waren
Menschen können sekundenschnell Bilder und Emotionen erfassen und verarbeiten: Sie sehen die Möbel und das Zimmer und nehmen wahr, in welcher Stimmung ihr Gegner ist, während sie Schach spielen. Computer spielen hingegen ganz anders Schach als Menschen: Sie haben alle je gemachten Züge eingespeichert und können Daten schneller verarbeiten und besser quasi unter Druck etwas finden. Die menschliche Kreativität ermöglicht es hingegen wiederum, Algorithmen so zu entwerfen, dass ein Computer daraus eine Aufgabe ableiten kann.
"Es geht um Abstraktion und darum, bei Gedankenprozessen irrelevante Details auszuschließen. Durch Abstraktion können wir komplexe Systeme bauen. Je effizienter sie sind, desto besser haben wir den Denkvorgang gemeistert", erklärt Wing. Computational Thinking befähigt dazu, Strukturen und Muster zu erkennen, wo man vorher keine gesehen hat.
Besonderes Augenmerk legt die Computerwissenschafterin auf dessen Implementierung in das Bildungswesen. Zusätzlich zu Schreiben, Rechnen und Lesen sollte jedes Kind die grundlegenden Konzepte der Computerwissenschaften verinnerlichen: "Wir müssen die Grundstrukturen von Daten und des Aufbaus von Algorithmen vermitteln. Es wird zunehmend unvermeidlich, je mehr Computer existieren."
Das menschliche Genom wurde mit einem cleveren Algorithmus viel schneller entziffert, als dies mit zuvor bekannten Methoden möglich gewesen wäre. In diesem Sinn eröffnen die Computerwissenschaften also Welten. Anders gesagt: Wer bloß die lange Division kennt, kann nur auf diese Art und Weise dividieren. Würde hingegen die Bildung von Algorithmen unterrichtet, hätten die Schüler verschiedene Wege zur Lösung von ein- und demselben Problem zur Verfügung. Was das Selbstbewusstsein im Erschaffen neuer Systeme wohl steigern würde.
Information als Baum
Wird Computational Thinking das Gehirn verändern? Die Wissenschaft ist uneins. Auch können Bildungspolitiker nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Verwendung von etwa E-Books im Schulunterricht hat. Auf jeden Fall aber läuft der Unterricht mit Hilfe des Internet, das Information vernetzt und sie auf Knopfdruck ausspuckt, anders als vor 30 Jahren ab. Vermutlich denken die Menschen heute weniger linear, da das Internet es erleichtert, Information quasi in Form eines Baumes zu organisieren.
Martin Korte vom Institut für Zelluläre Neurobiologie der Technischen Universität Braunschweig erforscht, wie Kindergehirne lernen. Er will keine Evidenz dafür erkennen, dass es besonders sinnvoll wäre, wenn Kinder so früh wie möglich auf den Computer kommen. "Im Unterschied zum Zentrum für das Erlernen von Fremdsprachen, das sich Impulse bis zum zehnten Lebensjahr erwartet, gibt es kein solches Areal für Computer. Um die Computerwelt einschätzen und sinnvoll nutzen zu können, ist sogar besser, älter zu sein, weil das kausale, analytische Denken sich erst ab dem zehnten Lebensjahr prägt", erklärt er.
Um das analytische Denken später im Leben optimal nutzen zu können, sei es jedoch nötig, dass Kinder zunächst in strukturierten Fächern zu denken lernen: "Das Basiswissen ermöglicht es, die Bereiche gedanklich zu vernetzen", sagt Korte. Um also die Struktur des Ganzen erfassen zu können, müssen wir uns vorerst mit seinen Grundpfeilern bestens vertraut machen. Kreatives Denken benötigt solide Grundlagen, die durch eine verfrühte Vernetzung von Wissen per Knopfdruck im Internet gehörig durcheinander gebracht werden können: "Es ist naiv zu glauben, dass man praktisch auf Knopfdruck bereits Wissen erwirbt und mit diesem Wissen dann auch noch kritisch umgehen kann."
Anpassung nach fünf Tagen
Wie alle Tätigkeiten, die wir intensiv betreiben, verändert auch die Nutzung des Internets die Aktivität im Gehirn. Und zwar sehr schnell, wie ein Team um Gary Small von der University of California nahelegt. Schon nach fünf Tagen konnten die Forscher bei Internet-Novizen neue Aktivitätsmuster feststellen. Das Hirngebiet, das Anpassungsprozesse zeigte, ist der sogenannte dorso-laterale präfrontale Cortex - eine der Kommandozentralen des menschlichen Denkorgans.
Die beeinflussten Areale in der Hirnrinde bestimmen unsere Art und Weise, Probleme zu lösen, Emotionen zu erkennen und zu kontrollieren, die Konzentration sowie die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben und langfristige Ziele zu verfolgen. Den Forschern zufolge verbessert die Internetnutzung die analytischen Fähigkeiten sowie die Gabe, mehrere Aufgaben gleichzeitig leisten zu können. Allerdings sind wir von Natur her derart schlechte Multitasker, dass der Preis für die Verbesserung sehr hoch ist: Wir werden fehleranfälliger und verlieren an Konzentration. Möglicherweise erwächst also aus der Generation der "Digital Natives" oder der Kinder der Computerwelt eine Generation von Ingenieuren, Technikern und Brückenbauern, die an vielen Bauwerke gleichzeitig arbeiten können, aber in der Fehleranalyse und Präzision gefährlich schwächeln.