Die zögerliche Haltung der Türkei im Kampf um Kobane spiegelt das strategische Kalkül im Umgang mit der PKK wider.
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Die relative Schwäche der Kurden im Kampf gegen IS erklärt sich zum Teil aus der Konkurrenz zwischen dem nationalstaatlich paternalistischen Modell von Kurdistans Präsident Masud Barzani und dem neuen PKK-System des "(volks)demokratischen Konföderalismus", das in allen von Kurden bewohnten Gebieten eingeführt werden sollte. Dieses beinhaltet auch die Gründung von Ablegern in Nachbarländern, vor allem Syrien (PYD) und Iran, die auch militärische Flügel haben. Im Rojava (Westkurdistan in Syrien) konnte die PYD unter anfänglicher Duldung des Regimes staatliche Strukturen aufbauen. Die relative Erfolgsgeschichte des Rojava sollte den Kurden in anderen Gebieten ein Vorbild sein, was in Ankara und Erbil als Provokation empfunden wurde. Nachdem die PKK/PYD den politischen Handlungsspielraum aller anderen kurdischer Gruppen einschränkte, kam es im Zuge der Vorbereitungen für eine internationale Kurdenkonferenz zum Bruch zwischen Abdullah Öcalans und Barzanis Anhängern, in dessen Folge die Grenze zum Rojava gesperrt wurde. Schwerer wog aber die politische Isolation der PYD/PKK, die sich nicht der Anti-Assad-Koalition anschloss und daher weder Verbündete vor Ort noch belastbare Kontakte ins Ausland hat - im Gegensatz zu den Nationalisten um Barzani, die das selbstverwaltete Territorium im Irak ausbauten und die alte Konkurrenz von der PUK in Suleymaniya langsam vereinnahmten. Der Vormarsch nach Kirkuk war die Erfüllung eines alten kurdischen Traumes. Der Export der dortigen Öl- und Gasressourcen ist nur über die Türkei möglich, daher Barzanis Freundlichkeit Ankara gegenüber. Der IS-Aufstieg und die blamable Niederlage der Truppen Barzanis in Sinjar brachten die militärischen Einheiten der PKK aus dem Rojava ins Spiel: Sie deckten die Flucht der Ezidi-Kurden. Die Einnahme Mosuls, die potenzielle Bedrohung Erbils und Bagdads sowie die IS-Gräueltaten schreckten die internationale Gemeinschaft ab, die bis heute nicht weiß, wie sie damit umgehen soll.
Mit der Einnahme Kobanes könnte IS erstmals einen wichtigen Grenzübergang kontrollieren, der für das Durchschleusen von Kämpfern, aber vor allem wirtschaftlich wichtig ist.
Auf regionaler Ebene wirkt IS wie ein Puffer, der eine direkte Konfrontation zwischen Iran, Irak, Saudi-Arabien und Türkei verhindert. Für Letztere spielt dabei natürlich eine Rolle, dass die militärischen Teile der PKK geschwächt oder ausgeschaltet werden, woran die türkische Armee bisher scheiterte. Damit dieses Kalkül unter Beibehaltung des kurdisch-türkischen Friedensprozesses aufgehen kann, hätte Kobane rasch fallen müssen. Die langen Kämpfe jedoch gaben den Kurden Zeit, die Weltöffentlichkeit zu sensibilisieren. Dies verschärfte die innenpolitische Lage und trug zum großen, fast irreparablen Prestigeverlust der Türkei im Westen bei, der ihr zu große Nachsicht gegenüber IS vorwirft.
Ein rasches Ende der Konfrontation ist nicht zu erwarten. Fällt Kobane, dürfte das nächste IS-Ziel Qamishli sein. Spätestens dann werden sich die Proteste in der Türkei zu schweren Unruhen entwickeln und die kurdische Öffentlichkeit die Regionalregierung in Erbil zwingen, militärisch einzugreifen. Vielleicht überdenken nun alle Seiten ihre Positionen. Viel Zeit ist nicht mehr.