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Was die Wissenschaft in 320 Jahren bewegte

Von Eva Stanzl

Wissen
1783 setzte der Mensch sich über die Schwerkraft hinweg: Bemannter Aufstieg in einer Montgolfière in Paris.nationale de France / C. L. Desrais
© nationale de France / C. L. Desrais

Im Gründungsjahr der "Wiener Zeitung" waren Alchemie, Medizin und Philosophie noch eng verbunden. Seitdem gab es ein gigantisches Ausmaß an Fortschritt. Im Folgenden eine bunte Auswahl wissenschaftlicher Meilensteine und Paradigmenwechsel.


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Manches scheint sich nie zu ändern. In der aktuellen Debatte um die notleidende medizinische Versorgung und die Besorgnis über die mangelnde Zeit, die Ärzte ihren Patienten widmen können, werden sinnvolle Maßnahmen wie Hausbesuche immer mehr infrage stellt. Der Nutzen des ärztlichen Hausbesuchs wurde schon 1703, dem ersten Erscheinungsjahr der "Wiener Zeitung", von dem angesehenen Mediziner Georg Ernst Stahl in einer brandaktuellen Publikation thematisiert. An seiner Sinnhaftigkeit hat sich in den letzten 320 Jahren also nicht viel geändert. Generell jedoch ist in Medizin- und Naturwissenschaft - von der "Wiener Zeitung" publizistisch begleitet - kein Stein auf dem anderen geblieben. An einige Errungenschaften soll in der Folge erinnert werden.

In Stahls Welt, in der Alchemie, Medizin und Philosophie noch eng mit einander verbunden waren, wurden gerade erst jene Methoden entwickelt, mit denen man auch heute noch wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnt, insbesondere genaue Beobachtung und Experiment. Die Ergebnisse waren freilich aus heutiger Sicht von unterschiedlicher Qualität. So erkannte Stahl richtig, dass Fieber eine Heilungsreaktion des Körpers auf Infektionen war - damals eine hoch umstrittene These, heute bewiesen. Andererseits vermutete er aus chemischen Experimenten, dass Wärme eine unsichtbare Substanz wäre, die Gegenstände durchdringt und beim Verbrennen aus ihnen entweicht. Diese Phlogistontheorie, wonach es keine Elemente, sondern nur Stoffe mit größerem oder kleineren Phlogiston-Gehalt gab, hatte Bestand, bis Antoine Lavoisier 1785 die Rolle des Sauerstoffs bei der Verbrennung erkannte.

Halleys Prophezeiung

In Lavoisiers Geburtsjahr 1743 feierte die "Wiener Zeitung" ihren 40. Geburtstag und in dessen Todesjahr 1794 hatte sie ihr 90-jähriges Bestandsjubiläum bereits hinter sich. Unsere Zeitung erschien erstmals, als der Astronom Galileo Galilei, Verfechter des heliozentrischen Weltbilds, gerade einmal 59 Jahre tot war. Die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts ruhte auf grundlegenden Erkenntnissen.

Aufbauend auf den präzisen Beobachtungen von Tycho Brahe, hatte Johannes Kepler 1609 die Ellipsenform der Planetenbahnen entdeckt. Isaac Newton vereinte die Erkenntnisse von Galilei über Beschleunigung und die von Kepler über Planetenbahnen und entwarf 1687 eine die Erde und den Himmel umfassende Mechanik. Dass das sich für das Auge blitzschnell ausbreitende Licht eine endliche Geschwindigkeit hat, hatte der dänische Physiker Ole Rømer 1676 erkannt.

Im Vergleich zu der naturwissenschaftlichen Revolution der Neuzeit gilt das beginnende 18. Jahrhundert als eher stille Periode, in der vorhandenes Wissen kategorisiert wurde. Auf dieser Basis konnte jedoch bereits im Jahr 1705 ein englischer Mathematiker und Astronom mit einer geradezu unglaublichen Prophezeiung für Aufsehen sorgen. Aus historischen Sichtungen errechnete Edmund Halley, dass der heute nach ihm benannte Komet 1758 wiederkehren würde. Den Triumph seiner eigenen Mathematik erlebte er freilich nicht mehr, da er 16 Jahre vor dem korrekt vorhergesagten Wiedererscheinen des Kometen verstarb. Hätte man ihm damals mitgeteilt, dass heute Roboter so groß wie Kühlschränke auf fremden Himmelskörpern landen würden, hätte er dies für Science Fiction gehalten.

Halley ist ein gutes Beispiel für den Stand der damaligen Wissenschaft und die Fortschritte, die seither gemacht wurden. So konnte er zwar bestimmen, wann der Komet wiederkehrt, aber was dieser Himmelskörper überhaupt ist, davon hatte er keine Kenntnis. Ähnlich erging es auch Gregor Mendel rund 150 Jahre später. Der Augustiner-Priester erkannte mit seinen berühmten Experimenten die nach ihm benannten Mendelschen Regeln der Vererbung, konnte sie aber nicht wie heute nutzen.

Es sollten noch weitere 100 Jahre vergehen, bis Francis Crick, James Watson und Maurice Wilkins auf der Basis von Röntgenbeugungsbildern von Rosalind Franklin die Molekularstruktur der DNA beschrieben. Medizinisch kommen beide Entdeckungen seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2001 und der Erfindung der Gen-Schere Crispr/Cas 9 im Jahr 2012 zum Einsatz. Heute können Abschnitte des Erbguts in der DNA gezielt entfernt oder eingefügt werden - der Code des Lebens wird umgeschrieben.

Erkenntnissprünge setzen insbesondere auch Technologiesprünge voraus. 1782 ließen die Brüder Montgolfier die ersten Heißluftballons unbemannt steigen. Am 21. November 1783 hoben dann erstmals zwei Personen in einer frei fliegenden Montgfolfière, so nannte man die Ballons, ab. Bei dem 25-minütigen Flug setzte sich die Menschheit erstmals über die von Isaac Newton nachgewiesene Schwerkraft hinweg. Die neue Technologie fand sogleich militärische Verwendung.

"Der Krieg ist der Vater aller Dinge." Dieses geflügelte Wort Heraklits scheint in besonderem Maße auch auf den Computer zuzutreffen. Charles Babbage und Ada Lovelace gelten als Vordenker des modernen, programmierbaren Computers. 1837 entwarf der britische Mathematikprofessor Babbage die Rechenmaschine "Analytical Engine" mit tabellarischen Darstellungen als Programme. Die Entdeckung der Elektrizität und ihrer Gesetze sowie des Elektromagnetismus und der Halbleiter machten die ersten elektronischen Großrechner möglich, die zunächst für ballistische Berechnungen eingesetzt wurden. Doch es sollte bis zum Zweiten Weltkrieg dauern, bis Konrad Zuse 1941 den ersten voll programmgesteuerten Computer bauen sollte. Wie umfassend Internet und Künstliche Intelligenz auf seiner Entdeckung aufsetzen sollten, war Zuse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bewusst.

Mit Sicherheit wäre auch die heutige Präzisionschirurgie nicht ohne die Narkose möglich. Vor der modernen Anästhesie waren Operationen eine Tortur für die Patienten und nur unter Schreckensgeschrei möglich. Erstmals 1846 in Boston, wurde nach einer Idee des Zahnarzts Horace Wells eine Vollnarkose mit Lachgas durchgeführt. Seitdem können Operationen ohne Schmerzen durchgeführt werden.

1883 - sechs Jahre nach der Erfindung des Telefons und rund 30 Jahre nach jener der ersten Verbrennungsmotoren - legte der deutsche Forscher Adolf Mayer den Grundstein für die Entdeckung der Viren. Er untersuchte eine Pflanzenkrankheit und vermutete zunächst Bakterien als Ursache. Diese hatte der belgische Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek mit selbst gebauten Mikroskopen bereits 1675 entdeckt, als er in Regenwasser fand, was er als kleine Tierchen beschrieb: Protozoen und Bakterien. Erst 200 Jahre später sollte erkannt werden, dass Seuchen sich nicht über giftige Ausdünstungen aus dem Erdboden verbreiten, sondern durch Mikroorganismen. Dem Wiener Chirurgen Ignaz Semmelweis gelang 1848 der Nachweis, dass die Übertragung von Krankheiten durch Desinfektion eingedämmt werden kann.

Kosmische Distanzen

Vor genau zehn Jahren, 2013, wurde das Higgs-Teilchen, das allen anderen Teilchen im Universum Masse verleiht, nachgewiesen. Doch der Paradigmenwechsel in der Physik hatte bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Das postulierte Medium für die Ausbreitung des Lichts, der Äther, ließ sich nicht nachweisen. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit einer grundlegenden Umstellung im physikalischen Weltbild, was zur Relativitätstheorie Albert Einsteins führte. Eine ebenfalls grundlegende Veränderung ergab sich durch die Quantenhypothese, wonach zwei Teilchen über kosmische Distanzen miteinander verbunden sind.

Zeitgleich konnte man sich die Form und Gestalt der Erde noch nicht erklären. Eine bis in die 1960er Jahre vertretene Hypothese war der Fixismus, wonach die Erdkruste mit dem Untergrund fest verbunden sei. Erst Alfred Wegener folgerte 1915 aus der Form der Küstenlinien auf beiden Seiten des Atlantiks, dass die heutigen Kontinente Teile eines großen Urkontinents gewesen sein müssen, der in der erdgeschichtlichen Vergangenheit auseinandergebrochen war. Seine Theorie der Plattentektonik erklärt heute auch Erdbeben und Vulkanismus.

Im Jahr dieser Erkenntnis war die "Wiener Zeitung" immerhin 212 Jahre alt. Das Jahr 2023, in dem die Bundesregierung unser Blatt mutwillig zudreht, fällt ebenso wie seine Gründungsjahre in eine Epoche, in der der Fortschritt ins Stocken geraten zu sein scheint. Wie das Fachmagazin "Nature" berichtet, ist nach einer Explosion an Entdeckungen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert die Zahl an bahnbrechenden Erkenntnissen und Patenten gesunken. Als Gründe nennt die University of Minnesota, die dazu 25 Millionen Fachpaper ausgewertet hat, die überbordende Komplexität des Wissens. Um neue Forschungsfragen zu entwickeln, müssten Forschende sich heute weitaus mehr Wissen aneignen als je zuvor. Bis man alles verstanden hat, was man braucht, vergeht mehr Zeit, als man hat. In diesem Sinn: Möge die Zukunft das Beste bringen!

Wissen~ Kleine Zeittafel der Entdeckungen:

1705: Kometenbahn-Berechnung

1783: Heißluftballon

1804: Schienenlokomotive

1839: Fotografie

1846: Narkose

1846: Gesetze der Elektrizität

Ab den 1850er Jahren: Verbrennungsmotor

1866: Mendels Vererbungsregeln

1876: Telefon

1895: Röntgenstrahlung

1902: Motorflug

1913: Atome

1916: Allgemeine Relativitätstheorie

1926: Farbfernsehen

1929: Erste Erwähnung Quantenphysik

1938: Kernspaltung

1941: Computer

1942: Penicillin

1953: DNA-Struktur

1956: Erste Konferenz Künstliche Intelligenz

1960: Laser

1969: Erster Mann auf dem Mond

1978: Retortenbaby

1989: Internet

2001: Genom-Entschlüsselung

2012: Gen-SchereCrispr/Cas 9