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Was geht mich die Sirene an?

Von Christoph Rella

Politik
Die meisten Beschäftigten blieben in ihren Büros im Millenniumtower.
© © obs

Millenniumtower: Hunderte schwänzten Katastrophenübung. | Bewusstsein für Gefahrenrisiko fehlt, kritisieren Experten. | "Geschäft wichtiger als das eigene Leben."


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Wien. Eigentlich hätten bei der angekündigten Katastrophenübung, die am Donnerstag im Wiener Millenniumtower abgehalten wurde, mehr als 1000 Menschen teilnehmen sollen.

Den Weg durchs Stiegenhaus ins Freie suchte allerdings nur jeder Vierte. Die übrigen Mieter, Mitarbeiter und Angestellten des rund 200 Meter hohen Wolkenkratzers zogen es hingegen vor, den Alarm zu ignorieren. "Einige sind vorher mit dem Lift hinuntergefahren, weil sie nicht zu Fuß gehen wollten", zog Jürgen Haussecker von der Gebäudeverwaltung eine ernüchternde Bilanz. Von den 1250 im Haus befindlichen Personen hätten sich nur 250 beim vereinbarten Sammelpunkt eingefunden. Was die Frage aufwirft: Ist das Sicherheitsbewusstsein der Menschen zehn Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York wieder im Sinken begriffen?

"Ich denke, dass hier die Gemütlichkeit schuld war", vermutet Dieter Krainz vom Kuratorium für Verkehrssicherheit. "Viele Leute rechnen hier in Österreich nicht mit einem Katastrophenfall und nehmen daher auch die Übungen nicht so ernst wie vielleicht die US-Amerikaner oder Japaner, die ja Notfälle gewohnt sind."

Sicherheitsbewusstsein ist eine Mentalitätsfrage

Einen Zusammenhang mit der Mentalität der Österreicher sieht auch Martin Heinisch von der Berufsfeuerwehr Wien: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass etwa Hotels von US-Ketten in Wien in der Regel viel besser brandgeschützt sind als andere, weil hier viel mehr auf Sicherheitsstandards Wert gelegt wird." Während US-Bürger und Japaner jede Alarmierung ernst nehmen und rasch flüchten würden, sei dieser Instinkt bei anderen Nationen weniger ausgeprägt", so der Experte.

Dass die Übung im Millenniumtower angekündigt war, hält Heinisch für gerechtfertigt. Darüber hinaus sei es nicht realistisch, dass ein so großes Haus vollständig geräumt werden könnte. Zumal der Turm mit einem Top-Brandsicherheitssystem ausgestattet sei, erklärte der Beamte.

Ein Übel darin, dass sich viele Menschen im Ernstfall zu sehr auf die Technik und professionelle Hilfe von außen verlassen würden, ortet wiederum der Wiener Psychologe Johann Beran. Hinzu komme eine gewisse "Wurschtigkeit": Ganz nach dem Motto: "Sirenenalarm? Da habe ich etwas Besseres zu tun", glaubt der Wissenschaftler. Besonders besorgniserregend sei es, wenn in so einem Fall andere Werte als die eigene Sicherheit - etwa die Arbeit und das Geschäft - im Vordergrund stehen. "Die Menschen haben in dieser Leistungsgesellschaft verlernt, auf sich zu schauen", betonte Beran. Sein Rat: Anstatt Mitarbeiter einmal im Jahr durchs Stiegenhaus zu hetzen, sollte den Leuten bei Übungen klar gezeigt werden, was im Ernstfall zu tun ist. Um die Lage noch echter wirken zu lassen, sei auch der Einsatz künstlichen Nebels denkbar, so der Psychologe.

Übungen als Investition in das Unternehmen

Um die richtige Einschätzung der realen Gefahr geht es auch Karl-Dieter Brückner vom Wiener Katastrophenhilfsdienst des Roten Kreuzes. So ist auch er der Meinung, dass "viele es verlernt haben, auf den Alarm zu hören". Sein Appell richtet sich daher in erster Linie an die verantwortlichen Führungskräfte, mit gutem Beispiel voran zu gehen. So sei es deren Aufgabe, ihren Mitarbeiten zu vermitteln, dass "Alarmpläne und Notfallübungen eigentlich eine Investition in die eigene Sicherheit, und damit in die Gesundheit und in den Erfolg des Unternehmens darstellen", erklärte Brückner. Bei der Kommunikation helfen könnten auch die Experten des Roten Kreuzes, in Form von Vorträgen etwa. "Es zahlt sich auf jeden Fall aus, jährlich die Fluchtwege selbst abzugehen und kennenzulernen. Sonst kann es, wenn es drauf ankommt, zu spät sein."