Uneinigkeit über Staats-Investitionen. | Verschiedene Konzepte für Wachstum. | Brüssel/Köln. Deutschland war lange der Motor der europäischen Wirtschaft. Heute ist es Wachstumsschlusslicht und muss sich vorwerfen lassen, vom europäischen Weg der sozialen Marktwirtschaft abgekommen zu sein. Egal, wer die Wahlen am Sonntag gewinnt, der künftigen deutsche Regierung steht angesichts dieser Situation eine schwierige Aufgabe ins Haus.
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Unterschiedliche Ursachen für die Krise und ebensolche Rezepte für den Aufschwung nennen Andrew Watt vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut und Winfried Fuest vom Institut der deutschen Wirtschaft. Die "Wiener Zeitung" hat die Experten zu einem Gespräch gebeten.
In den 80er Jahren, so Watt, habe es ausgesehen, als seien etwa Großbritannien und die USA am absteigenden Ast. Heute ist die einstige Vorzeigevolkswirtschaft Deutschland mit Rekordarbeitslosigkeit und einem Wirtschaftswachstum von nur rund einem Prozent konfrontiert. Die Gründe für diese Wende sind vielfältig. "Die Wiedervereinigung steht sicherlich im Zentrum", ist er überzeugt, "in Verbindung mit dem Maastrichter Prozess und der Währungsunion". Es sei zwar richtig, dass für die rund 120 Milliarden Euro Transferleistungen pro Jahr von West nach Ost erhebliche Mittel aus dem Bundeshaushalt notwendig seien, stimmt Fuest zu. Und auch den Stabilitätspakt werde Deutschland das vierte Jahr hintereinander verletzen - "wir liegen eher bei vier als bei drei Prozent". Aber das wirkliche Problem sei die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.
Schröders Denkfehler
Die Reformen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder sehen beide weitgehend positiv. Allerdings ortet Watt einen Denkfehler, Fuest gehen sie nicht weit genug. "Es wurde die weit verbreitete Meinung beherzigt", meint ersterer, "dass die Probleme tatsächlich am Arbeitsmarkt liegen. Sie manifestieren sich aber nur dort." Druck auf den Arbeitsmarkt im Sinne von Leistungskürzungen könne man nur ausüben, wenn eine expansive Wirtschaft herrsche. Um diese zu stimulieren müsse der Staat investieren und/oder die Leitzinsen senken. Ersteres sei wegen der strengen Haushaltsdisziplin für die Einheitswährung nicht möglich und die Zinsen für die Eurozone bestimmt die Europäische Zentralbank. Folgerichtig hätte Deutschland zu Beginn der Reformen etwa 2001 oder 2002 eine kurzfristige Aussetzung des Stabilitätspakts verlangen sollen, schließt Watt. Schließlich sei auch der Aufstieg der heute erfolgreichen Briten Anfang der 1990er Jahre mit einer massiven Währungsabwertung und einem Defizit von acht Prozent eingeleitet worden.
Idee "absurd"
Fuest hält ein vorübergehendes Aussetzen schlicht für eine "absurde Idee". Einerseits werde die Wirkung der Geldpolitik (Zinsen Anm.) auf die Konjunktur überschätzt. Andererseits setze sich die Lehrmeinung durch, dass geringere Staatsausgaben nicht gleich zu weniger Wachstum führen. Ein gutes Beispiel dafür sei Österreich.
Uneins sind sich die beiden Wirtschaftsforscher auch über die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Während Watt sie sehr hoch sieht und auch die Weltbank unlängst Rang 4 vergeben hat, verweist Fuest auf die fehlende Wertschöpfung. "Verbucht werden zwar die gesamten Exporte. Viele Vorleistungen werden aber nicht im Land erbracht".
Deshalb müsse Deutschland wettbewerbsfähiger werden. "Wir leben heute - auch angesichts der EU-Osterweiterung - mehr den je in einer globalisierten Welt", gibt er zu Bedenken. Daher müsse die nächste Regierung die Reformen Schröders noch fortführen. Konkret fordert Fuest die Senkung der Lohnnebenkosten, eine Liberalisierung des Arbeitsrechts und eine Steuerreform, wie sie die deutschen Christdemokraten verlangen. Für eine Flat-Tax sei "Deutschland aber noch nicht bereit".
Das sieht auch Gewerkschafts-Ökonom Watt so ("eindeutige Umverteilung von unten nach oben"). Er glaubt aber, dass Deutschland die bisherigen Reformen erst einmal verdauen muss. Darüber hinaus müsse der Staat - im Rahmen der Möglichkeiten des im März gelockerten Stabilitätspakts - verstärkt investieren - etwa in öffentliche Infrastruktur.