Der ehemalige OSZE-Sondergesandte Martin Sajdik über die Chancen auf eine Verhandlungslösung in der Ukraine.
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Der österreichische Spitzendiplomat Martin Sajdik war direkt an Vermittlungen zwischen der Ukraine und Russland im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) beteiligt. Im Interview fordert er diplomatische Kreativität, um zu einem Waffenstillstand zu kommen.
"Wiener Zeitung": Vertreter Russlands und der Ukraine verhandeln derzeit. Sie haben als Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) selbst Erfahrung mit derartigen Verhandlungen zwischen beiden Seiten gesammelt. Können Gespräche derzeit überhaupt etwas bewirken?
Martin Sajdik: Wenn man traditionell an diese Frage herangeht, dann lautet die Antwort, dass es derzeit keine Voraussetzungen für Verhandlungen gibt. Es finden im Moment in der Ukraine Kampfhandlungen statt, die in aller Härte geführt werden, dazu kommen unglaubliche Fluchtbewegungen von ukrainischen Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder. Tatsache ist aber, dass Gespräche laufen - und zwar intensive Gespräche. Zuletzt hieß es, dass sich diese Verhandlungen auch um den Neutralitätsstatus der Ukraine drehen.
Wo könnte es in solchen Verhandlungen Spielraum geben, wo sehen Sie die roten Linien?
Für Präsident Wolodymyr Selenskyj ist es unmöglich, ohne Parlamentsbeschluss Zugeständnisse territorialer Art zu machen. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass die Ukraine sich bereit erklärt, den Anspruch auf die Krim oder auf Donezk oder Luhansk aufzugeben. Dafür gäbe es weder im Parlament noch in der Bevölkerung eine Mehrheit.
Und wenn es um eine Absage an die Nato oder um die Frage einer Neutralität der Ukraine geht?
Da sehe ich auf ukrainischer Seite durchaus Spielraum, denn über dieses Thema gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Diskussionen. Das ist also kein Tabu in der ukrainischen Gesellschaft, wobei die Annexion der Krim und Russlands Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine diese Diskussion zweifellos verkompliziert hat. Wenn es nun um die Frage eines Verzichts auf einen Nato-Beitritt geht, dann stellt sich die Frage, welche Sicherheitsgarantien es für die Ukraine in diesem Fall gibt. Aus gutem Grund: 1994 wurde das Budapester Memorandum unterzeichnet, nach dem die Ukraine auf die von der Sowjetunion "geerbten" Nuklearwaffen verzichtete und sich im Gegenzug Russland, die Vereinigten Staaten und Großbritannien verpflichteten, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten. Auch China und Frankreich haben sich damals zu diesem Dokument bekannt. 1997 wurde der Russisch-Ukrainische Freundschaftsvertrag unterzeichnet, in dem festgehalten war, dass Russland die bestehenden Grenzen der Ukraine und die territoriale Integrität des Landes respektiert. Kiew musste aber leider erleben, dass diese Übereinkommen nicht viel halfen, als 2014 die Konflikte auf der Krim-Halbinsel und in der Ostukraine begannen. Und das Minsker Abkommen von 2015 war von Anfang an brüchig und am 22. Februar, also zwei Tage vor dem Angriff auf die Ukraine, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin, dass dieses Abkommen nicht mehr existiert.
Kiew ist also sehr misstrauisch, was Zusagen aus Moskau betrifft.
Ja. Mit ist auch nicht bekannt, welche Sicherheitsgarantien die Russische Föderation der Ukraine nun anbieten wird. Oder haben Sie dazu etwas vernommen?
Nein.
Eben.
Dennoch: Kriege enden irgendwann mit einem Waffenstillstandsabkommen und einem Friedensvertrag. Wie könnte so etwas aussehen?
Ende 2018 haben wir für die Ostukraine einen Plan vorgestellt, der im Rahmen des Normandie-Formats - also mit Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine - eine Umsetzung des Minsker Abkommens für die Ostukraine beinhaltet hätte. Man könnte einen Vertrag nach diesem Muster für das Gebiet der gesamten Ukraine aushandeln, es wäre auch eine Blauhelmoperation für die Süd- und Ostukraine denkbar, wobei schon klar ist, dass so eine Mission unglaubliche Dimensionen annehmen würde. Da habe ich - das muss ich zugeben - Zweifel, wie realistisch so etwas wäre. Aber man darf jetzt nicht aufhören, kreativ zu denken. Ein zentraler Aspekt: Wie bekommt die Ukraine diesmal wirkliche Garantien? Dazu muss man folgendes klären: Wie definiert die Russische Föderation ihr Sicherheitsbedürfnis? Wo beginnt, wo endet dieses? Und wie sieht es mit dem Sicherheitsbedürfnis der Europäischen Nachbarn Russlands aus? Haben die nicht auch ein legitimes Sicherheitsbedürfnis?
Sie sind ein Kenner Chinas und waren von 2007 bis 2011 österreichischer Botschafter in Peking. Haben Sie Hoffnung, dass China deeskalierend auf Russland einwirken könnte?
In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es eine beispiellose Annäherung zwischen beiden Ländern, das bilaterale Verhältnis zwischen Russland und China ist so gut wie nie zuvor in der Geschichte. Die Grenze zwischen beiden Ländern ist 4.133 Kilometer lang - die zweitlängste Landgrenze nach der Kanadisch-Amerikanischen. In der Ära Putin wurde ein Grenzvertrag zwischen Russland und China abgeschlossen, die Grenze war in manchen Abschnitten seit Jahrhunderten nicht klar festgelegt. 1969 hat das zu einem schweren Grenzkonflikt am Ussuri geführt. Ob China aber in diesem Konflikt vermitteln kann - da habe ich meine Zweifel. Denn für Mediation muss man vor Ort sein. China ist aber immer noch in einer freiwilligen Selbstisolation und hat sich sehr strenge Reiserestriktionen auferlegt. Ich glaube nicht, dass sich das vor dem Parteitag der chinesischen Kommunistischen Partei im Herbst stark verändern wird. Derartige Vermittlung kann man aber nur im direkten Gegenüber leisten, so etwas funktioniert per Videokonferenz einfach nicht.
Zum Thema Neutralität: Wurden sie als österreichischer Diplomat während ihrer Zeit in der Ukraine auf dieses Thema angesprochen?
Natürlich - immer wieder. Aber es war aber auch immer Verständnis dafür da, dass die österreichische Neutralität nicht unbedingt ein Exportmodell ist. Unsere Neutralität wurde eben in den 1950er Jahren auf die damaligen Bedürfnisse zugeschnitten. Interessant ist jedenfalls, dass Kreml-Sprecher Dmitri Peskow die Neutralität ins Spiel gebracht und auch gesagt hat, dass Russland nichts gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine einzuwenden hätte. Das war 2014 noch anders. Im EU-Assoziationsabkommen mit der Ukraine war damals - anders als bei den Papieren mit Polen oder Ungarn - übrigens explizit keine EU-Perspektive für die Ukraine formuliert.
War es ein Fehler des Westens, dem Kreml mit der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine relativ ungeschoren davonkommen zu lassen?
Im Nachhinein ist man immer klüger. Erinnern sie sich: Russland hat innerhalb kürzester Zeit eine sehr effiziente Propagandamaschine angeworfen und erklärt, dass die Krim eigentlich russisch sei - und dasselbe für den Donbass gelte. Der Westen ist dann rasch wieder zur Tagesordnung übergegangen. Heute wissen wir, dass es ganz gut gewesen wäre, wenn alle Seiten auf das Völkerrecht gepocht hätten.
Ich stelle mir heute aber eine Reihe von Fragen. Putin sagte unlängst: "Die Operation verläuft nach Plan". Was heißt da, es läuft nach Plan? Wenn Putin davon spricht, dass alles "po planu" läuft, dann frage ich mich, welchen Plan Putin denn meint. Lief es nach Plan, wenn zwei Millionen Menschen innerhalb von zwei Wochen zu Flüchtlingen wurden? War der Plan, Mariupol völlig zu zerstören? War der Plan, Charkiw massiv zu bombardieren und zu beschießen? War der Plan, im Umfeld eines Atomkraftwerks Kampfhandlungen zu setzen, die dieses Atomkraftwerk in eine bedenkliche Sicherheitssituation gebracht haben? Ferner frage ich mich: Was steht denn noch so alles auf dem Plan? Darauf verdient die russische Bevölkerung - aber auch die Ukraine, ja die gesamte Welt - eine Antwort.
Nach Wladimir Putins jüngste Rede steht auch die Frage im Raum, was beinhaltet denn sein innenpolitischer Plan?
Wer weiß das schon, außer dass die Zügel noch straffer werden!
Was sagen Sie unseren Lesern, die derzeit Angst vor einer weiteren Eskalation haben und voller Sorge auf die Ukraine blicken?
Es kann nur eine Antwort geben: Glauben wir an das Prinzip Hoffnung. Worüber ich mir Gedanken mache, ist die Tatsache, dass man in der Betrachtung der derzeitigen Situation mit der eigenen - westlichen - Rationalität schnell an Grenzen stößt. Es gibt offensichtlich in Moskau ein anderes Kalkül - das müssen wir erkennen. Und mit dieser Realität müssen wir nun leben. Denn es gibt etwas, das wir nicht wissen: Was ist das eigentliche Ziel Putins?