Es braucht eine Anpassung an den Homo stimulus.
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Die Pflege ist zweifellos ein fundamentaler Bestandteil eines funktionierenden Sozialstaates. Zugleich sieht sie sich aber mit mannigfaltigen Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert, die seit Jahren ungelöst erscheinen. Ein zentrales Problem, der Fachkräftemangel, bleibt ungelöst, denn primär werden die Bedürfnisse der Arbeitgeber und des Gesundheitssystems betrachtet, aber nicht die des Einzelnen.
Der Ansatz verkennt radikal, dass das Individuum heute, getragen von den Neuen Medien, einem völlig anderen Reizrahmen einer sich dynamisch wandelnden Wirklichkeit ausgesetzt ist. Online-Zeiten von mehreren Stunden am Tag sind inzwischen ebenso Normalität wie die Konditionierung auf verhaltenskapitalistische Belohnungssysteme, die unmittelbar wirken. Anders als in früheren Tagen sind diese Stimuli keine abschaltbaren Fremdkörper, sondern werden aktiv eingefordert und genutzt. Eingebettet als König in der eigenen Welt, die bloß der Erforschung und Erfüllung eigener Bedürfnisse dient. Mit Google, Amazon, Meta, TikTok, YouTube - oder wie auch immer die Verhaltenskapitalisten von morgen heißen werden.
All das wirkt sich prägend auf Persönlichkeitsentwicklung, Verhalten oder die Kompetenzen des Einzelnen aus. Aus dem Homo sapiens ist in vielen Fällen ein Homo stimulus geworden. Dieser ist für eine Ausbildung in einem schwierigen Feld wie der Pflege allerdings weitaus schwerer zu motivieren als seine Vorgänger, denn die Neukonditionierung passt kaum zu den typischen Anforderungen in einem schwierigen Bereich. Vom König in der eigenen Welt zum kleinsten Rädchen im schweren Alltag. Von ständiger, unmittelbarer Belohnung zu einer oft undankbaren Wirklichkeit. Von der totalen Indvidualisierung und Selbstverwirklichung zum anstrengenden Schichtbetrieb. Wen wundert es, wenn eine Tätig-
keit in diesem Bereich, neben all den weiteren Problemen, immer unattraktiver wird und die Ab-
bruchquoten bei 30 Prozent liegen?
Trotzdem spielen diese neuen Einflüsse bisher kaum eine Rolle. Weder in vielen Fachkreisen noch in den Medien. Sie müssten es aber. Um den Bedarf an Pflegekräften für die Zukunft zu sichern, erscheint es notwendig zu untersuchen, mit welchen konkreten Einflüssen Auszubildende in der Pflege im 21. Jahrhundert konfrontiert werden, wie diese sich auf Persönlichkeit, Verhalten und Kompetenzen auswirken und wie mit ihnen umzugehen ist. Das haben wir mit der Erich von Werner Gesellschaft getan. Zweifellos nur ein erster Schritt, dem noch viele folgen müssen, aber einer, der eine klare Tendenz aufzeigt: Der Homo stimulus ist längst fest und unumkehrbar etabliert, und dies gebietet eine sofortige Reaktion.
Es erscheint daher sinnvoll, ein Pflegeausbildungsbelohnungssystem (PABS) zu etablieren. Bei diesem wird - vereinfacht - die Konditionierung des Homo stimulus in den Mittelpunkt gerückt. Das heißt, Ausbildungshandlungen sollen unmittelbar und schnell belohnt, das Individuelle mehr betont werden. Ein solches System ließe sich im Modellversuch im kleinsten Rahmen entwickeln und anschließend breit ausrollen.
Und nein, eine solche Implementierung löst nicht alle Probleme der Pflege. Es wäre aber ein weiterer Baustein, um einen schwierigen Bereich in eine bessere Zukunft zu führen.