Keiner wusste, wovon Albrecht lebte, nur dass er schon sehr lange arbeitslos war. Mehrmals die Woche saß der hagere, schmächtige Mann abends im Klassik-Lokal "Santo Spirito" in der Wiener Innenstadt, lauschte versonnen der Musik, dirigierte vor sich hin und jauchzte bisweilen laut mit, wenn besonders festliches Barock aus den Boxen schmetterte. Es schien das einzige Vergnügen zu sein, das sich der ärmlich gekleidete Albrecht leistete.
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Einmal im Monat beglich er seine Zeche. Bis auf seine gelegentlichen Gesangsausbrüche war er schweigsam und trank still lächelnd sein Bier. Eine Randfigur. Nur über alte Bücher redete er gerne. War man auf der Suche nach einem antiquarischen Werk, brachte Albrecht es einige Tage später herbei - aus welcher Zauberkiste auch immer.
Oft blieb er bis zur Sperrstunde zeitig in der Früh. Dann entschwand er hinaus in die Nacht und ging etwas wackelig zu Fuß in Richtung Landstraße, wo er daheim war.
"Der Albrecht hat in diesem Monat seine Schulden gar nicht beglichen", wunderte sich eines Tags im Mai Christian, der Wirt. "Ja, er war auch schon eine ganze Weile nicht da", bemerkte ein Stammgast. Da erinnerte sich ein zweiter, in der Zeitung von einem spektakulären Todesfall gelesen zu haben. In der Rotenturmstraße war eine schrecklich zugerichtete Männerleiche gefunden worden. Der veröffentlichte Vorname des nur schwer identifizierbaren Mannes: Albrecht. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig; wegen seiner schäbigen Kleidung galt er als "vermutlich obdachlos"; offensichtlich war er in den 3. Bezirk unterwegs gewesen...
Am 24. März um halb fünf Uhr Früh kreuzte der 53-jährige Albrecht M. den Weg eines frustrierten 22-jährigen Arbeitslosen, der zuvor in einem In-Lokal mit seinen Kumpanen sechs Flaschen Wodka geleert hatte. Der wegen Gewalttaten vorbestrafte Kickboxer, ein Fleischberg von einem Mann, steht dem neonazistischen Flügel der Fans eines großen Wiener Fußballklubs nahe. Wie die Tat vor sich gegangen ist, möge das Gericht klären (für den mutmaßlichen Täter gilt die Unschuldsvermutung). Am Ende lag Albrecht mit geplatztem Schädel auf dem Pflaster im Regen. Sinnlos totgetreten wie ein Hund.
In die Kriminalchronik wird sein grausiges Ende wohl als "Schlägerei unter Arbeitslosen" eingehen. Doch es ist mehr. Hier hat ein Prinzip ein anderes erschlagen: Die hirnlose, sozial wie politisch abartige, parallel zum mentalen Abstieg körperlich hochgezüchtete Kampfmaschine tötete den stillen, milden Feinsinnigen, dessen Trotzmacht des Geistes sich wie so oft am Ende nicht gegen die tödlichen Schläge des Primitiven wehren kann - das "Prinzip Albrecht". Auf seiner Seite mögen die Götter sein, die Gesellschaft aber nährt die Stumpfen. Sie sind einfach zu viele.
Martin Haidinger ist Journalist in Wien.