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Was ist das Europäische an der EU?

Von Manfried Welan

Europaarchiv

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Stellen wir uns vor, wie Europa 2025 aussehen könnte: "Ein Staaten-, Wirtschafts- und Sicherheitsbündnis mit etwa 40 Demokratien, 650 Millionen Menschen in Regionen, von denen einst zwei Weltkriege ausgingen und die nach wie vor einen Großteil des weltweiten Wohlstandes produzieren; dazu weitere 650 Millionen in Ländern, die Anfang des 21. Jahrhunderts in den brisantesten Teilen der Erde lagen, jetzt aber in einem großen Bogen der Partnerschaft mit der Europäischen Union angehören, der von Marrakesch über Kairo, Jerusalem, Bagdad und Tiflis bis hinüber nach Wladiwostok reicht." Das Bild, das Timothy Garton Ash zeichnet, ist eine Vision. Sie lässt sich aber aus der bisherigen Geschichte der Europäischen Union ableiten.

Die Frage, was Europa sein kann, ist solcher Art leichter zu beantworten als die Frage: Was Europa ist?

Was ist Europa? Je mehr man sich mit dieser Frage beschäftigt, desto mehr muss man erkennen, dass sie offen bleiben muss. Europa ist nichts Fix und Fertiges, es

ist nicht gegeben, sondern aufgegeben, es ist die Aufgabe der Gegenwart für die Zukunft.

Was Europa ist, ist daraus zu erkennen, was es nicht ist.

Europa ist kein Großraum. Die Weltkarte macht es klar. Es ist ein kleinräumig gegliedertes Vorland Asiens.

Europa ist keine Nation. Es gibt auch keine Europiden.

Europa ist kein Staat. Es hat viele Nationen und viele Staaten. Es leidet aber weniger unter seinen Staaten; und seinen Nationen; als unter seinen Nationalstaaten. Aber sie tragen die europäischen Demokratien.

Manche wollen Vereinigte Nationen von Europa; manche Vereinigte Staaten von Europa. Die Erfahrung lehrt, dass Staaten zu vereinigen sind, die Nationen aber nur innerhalb ihrer Staaten.

Europa hat keine eigene Sprache. Die Vielfalt seiner Staaten und Nationen wird noch gesteigert in der Vielfalt seiner Sprachen.

Europa hat keine einheitliche Kultur. Andererseits ist Kultur längst globalisiert. Das gilt für die Wissenschaft und die Kunst im besonderen. Die europäischen Nationalkulturen schließen sich der alles überflutenden Globalkultur an und auf und wirken, oft auch als Lokal- und Regionalkulturen, in ihr mit.

Europa hat auch noch kein einheitliches Recht. Aber es wird bald eine gemeinsame Verfassung haben und EU-Recht wird immer mehr. Europa hat keine militärische Macht. Kurz: Staat und Nation, Sprache und Kultur, Recht und Militär scheiden als gemeinsame Nenner europäischer Einheit aus. Die Geschichte könnte ein gemeinsamer Grund sein. Aber lehren und lernen wir schon europäische Geschichte.

Aber Europa hat allen EU-Mitgliedsstaaten gemeinsame Grundsätze und Grundrechte. Die einheitliche Verfassung verstärkt sie. Im übrigen ist sie längst ein einheitlicher Wirtschaftsraum und ihre Mitglieder haben mehrheitlich eine einheitliche Währung. Schließlich hat (sich) die EU in dieser Verfassung einheitliche Ziele vorgegeben. Damit weist sie in die Zukunft: Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Angehörigen von Minderheiten. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nicht-Diskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.

Ihr Ziel ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Sie bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas hin auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt abzielt, sowie eines hohen Maßes an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzungen und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas. In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, weltweiter nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte insbesondere der Rechte des Kindes sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze, der Charta der Vereinten Nationen. Sie verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in der Verfassung zugewiesen werden. Diese Ziele, Grundsätze und Werte werden in ihren Präambeln ergänzt und neu gestärkt.

Man mag fragen, was das Europäische daran ist. Denn abgesehen von Hinweisen auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe und auf die bitteren Erfahrungen ist geradezu die Universalität das Charakteristische. Und wenn die Union zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene beiträgt, so ist auch das von universellem Wert. Im Besonderen gilt dies für die Devise der EU: "In Vielfalt geeint", die an den Wahlspruch Franz Josephs erinnert "Viribus unitis." Aber auch das ist universell und könnte das UNO-Motto sein.

O. Univ.Prof. Dr. Manfried Welan ist Professor für Recht und Politik an der Universität für Bodenkultur Wien.