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Wladimir Putin hat in Russland ein autoritäres Regime an der Grenze zur Diktatur errichtet. Der geforderte Sotschi-Boykott greift trotzdem zu kurz.
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Was ein Diktator ist, vermeint jeder politisch-historisch auch nur halbwegs Interessierte zu wissen: Hitler, Stalin, Mao. Aber ist zum Beispiel Wladimir Putins Russland, wo Oppositionelle in sibirischen Arbeitslagern landen, kritische Journalisten umgebracht und Homosexuelle öffentlich verprügelt werden, eine Diktatur? Und ist es deswegen etwa unzulässig, als Spitzenpolitiker einer westlichen Demokratie Olympia in Sotschi zu besuchen, wie das etwa die Grünen behaupten?
Der Fall Putin zeigt, dass die Trennung der Welt in Diktaturen und Nicht-Diktaturen zwar ein emotionales Bedürfnis befriedigt (weil es uns erleichtert, auf der scheinbar richtigen Seite zu stehen), aber als Außenpolitik-Instrument nur wenig taugt.
Denn es stimmt zwar, dass Putin in Russland eine Semi-Diktatur etabliert hat, die vom Rechtsstaat so weit entfernt ist wie Wladiwostok von Moskau; auch wenn der Präsident - formal zumindest - in demokratischer Wahl bestimmt wird.
Genauso trifft aber auch zu, dass Putin, und sei es bloß mithilfe der gestiegenen Rohstoffpreise, seinem Land zu Stabilität und der Mehrzahl der Russen zu einer gewissen Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse verholfen hat, während etwa unter seinem Vorgänger Boris Jelzin so etwas wie Demokratie nach westlichem Vorbild Hand in Hand ging mit Verelendung, Massenarmut, dem Aufstieg der Oligarchen und einer Desintegration der staatlichen Ordnung.
Putin ist da kein Einzelfall. Deng Xiaoping etwa, der China von 1978 bis 1992 mit eiserner Hand regierte, das Tiananmen-Massaker zu verantworten hatte und die Gefängnisse mit Dissidenten füllen ließ, stieß gleichzeitig jene ökonomischen Reformen an, die bis heute hunderte Millionen Chinesen aus bitterster Armut zu bescheidenem Wohlstand kommen ließen. Der Mann war ein übler Diktator mit Blut an seinen Händen - aber auch der wahrscheinlich erfolgreichste Kämpfer gegen die Armut, den es im vergangenen Jahrhundert in China gab.
Selbst der weltweit mit gutem Grund verhasste chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet wird in die Geschichte nicht nur als Schwerverbrecher eingehen, der zehntausende Gegner foltern und liquidieren ließ, sondern auch als Gewaltherrscher, der sein Land trotzdem zu einer der wirtschaftlich erfolgreicheren Nationen Südamerikas machte, in der Armut, Arbeitslosigkeit oder etwa die Kindersterblichkeit langfristig stark reduziert wurden.
Österreichs Außen- und Wirtschaftspolitik hat sich angesichts dieser nicht ganz einfachen Gemengelage übrigens seit Jahrzehnten stets recht pragmatisch verhalten, manchmal auch eindeutig zu pragmatisch; etwa wenn Wien die anti-kommunistische Opposition im einstigen Ostblock ignorierte, um die Exporte der verstaatlichten Industrie dorthin nicht zu gefährden, oder die Sanktionen gegen den wirtschaftlich interessanten Iran ohne allzu großes Animo umsetzte.
Dass Österreich in der Vergangenheit ein durchaus schlampiges Verhältnis zu unguten Diktaturen pflegte, wäre freilich auch durch einen von den Grünen geforderten Politiker-Boykott von Sotschi nicht aus der Welt zu schaffen gewesen.
ortner@wienerzeitung.at