Immer wieder fällt der Mensch - und immer wieder erfährt er Vergebung und Versöhnung.
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Diese heute weitgehend tabuisierte Frage des Pontius Pilatus darf man am Karfreitag schon stellen, denke ich. "Was ist Wahrheit?" Angesichts des unerhörten, skandalösen Kreuzestods Christi ist diese Frage berechtigt. Was ist das für ein Gott, der Seinen Sohn opfert, um Seine eigenen Kreaturen, uns Menschen, zu retten? Zu retten? Wovor? Vor den Konsequenzen ihrer eigenen Schuld. Wieso schafft dieser Gott Menschen, die schuldig werden können? Wenn Er doch allmächtig ist? Immer wieder stellt sich die Frage der Theodizee in der einen oder anderen Form.
Wieso überhaupt "Schuld"? Wozu braucht man sie? Niemand "braucht" Schuld, sie ist einfach da. Wer sich aber der eigenen Schuld bewusst wird, reagiert zunächst einmal reflexartig, indem er sie von sich weist, Ursachen außerhalb von sich selbst sucht und zuweilen auch findet und sich rechtfertigt. Jeder Mensch weiß: Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden, und dem römischen Hauptmann entfuhr es auch erst, als Jesus bereits tot war: "Wahrhaftig, das war Gottes Sohn!" Wer aber bereit ist, Schuld auf sich zu nehmen, auch die von anderen, der wird gelyncht, auch heute noch. Zu verlockend ist es doch, mit dem Finger auf andere und weg von sich selbst zu weisen. Die Kette des Bösen ist unendlich, wenn sie nicht das eine oder andere Mal durchbrochen wird. Das Angebot Gottes an den Menschen ist gewaltig, übernatürlich, eben göttlich: ich probiere es noch einmal mit Dir, Du bekommst noch eine Chance, und noch eine und noch eine . . . - ein Skandal für manchen Rechtschaffenen, der sich ein Leben lang bemüht, gottgefällig zu handeln. Doch auch dieser entkommt dem Irrtum nicht, zu glauben, er könne selbst ohne Fehler sein.
So scheint es offenbar unmöglich zu sein, nicht doch eines Tages "schuldig" zu werden. Klagt doch schon Goethe die "Himmlischen Mächte" an: "Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein; denn alle Schuld rächt sich auf Erden." Angesichts dieser Tatsache könnte es naheliegend sein, den Hut draufzuwerfen und dann halt einfach drauflos zu leben, wenn doch ohnedies alles keinen Sinn hat.
Die wahre Weisheit Europas besteht und bestand über Jahrhunderte in der göttlichen Antwort auf die menschliche Frage. Immer wieder fällt der Mensch - und immer wieder erfährt er Vergebung und Versöhnung. Wer das nicht versteht oder nicht verstehen will, versteht Europa und seine wahre Größe nicht. Wer den Kreuzestod des Sohnes Gottes nicht annimmt, dem bleibt halt nur der Schein der Materie, die ewige Kette der Schuld. Das Geschenk der Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden. Die Vergebung scheint der eigentliche Skandal für jene zu sein, die Jesu Lehre ablehnen, denn sie wollen die vermeintlich Schuldigen hängen sehen, die ja doch immer "die anderen" sind. Doch jeder ist eines anderen anderer.
"Was ist Wahrheit?", fragt Pilatus, der Repräsentant des Staates, der Vertreter einer materialistischen Weltsicht, auch heute noch, meist mit spöttischem Unterton. Auch heute vertrauen die meisten Menschen lieber den Sanktionen des menschengemachten und daher willkürlichen Staates, als dem vom Heiligen Geist Gottes inspirierten Menschen. Es liegt wohl noch ein langer Weg vor uns.
Martin Ploderer ist Schauspieler, Sprecher und freier Kulturschaffender.