Warum die Corona-Krise uns zum Umdenken bewegen muss.
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Alice irrt durch den Garten der Königin und trifft die Grinsekatze:"Würdest Du mir bitte sagen, welchen Weg ich einschlagen muss?", fragt Alice."Das hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wohin du gehen willst", antwortete die Katze."Oh, das ist mir ziemlich gleichgültig", sagte Alice."Dann ist es auch einerlei, welchen Weg du einschlägst", meinte die Katze."Hauptsache, ich komme irgendwohin", ergänzte Alice."Das wirst du sicher, wenn du lange genug gehst", sagte die Katze.(Auszug aus dem Kinderbuch "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll.)
Anders als in Lewis Carrolls Geschichte "Alice im Wunderland" ist es den meisten von uns nicht egal, wo wir hinwollen. Doch allzu oft verhindern unser gestresster Lebensstil und ständige Ablenkungen in unserem Alltagsleben, dass wir darüber nachdenken, wohin wir wollen. Wenn es einen Nutzen aus der Selbstisolierung gibt, dann könnte jetzt die Gelegenheit sein, darüber nachzudenken, woher wir gekommen sind, wohin wir wollen und wie wir dorthin gelangen.
In meiner Zeit bei World Vision habe ich in 26 Ländern mit Gemeinschaften gearbeitet, die unter den Folgen von Entwaldung, Landdegradierung und Klimawandel leiden. Im Rahmen dieser Arbeit leite ich oft Workshops. Als erstes rede ich mit den Menschen immer über ihre Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Ich bitte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zu beschreiben, wie ihr Leben aussah, als sie Kinder waren, wie es jetzt ist und wie das Leben für ihre Kinder und Enkelkinder sein wird, wenn sich nichts ändert und das Leben so weiter geht, wie bisher.
Die Ergebnisse sind erstaunlich einheitlich. Im Allgemeinen beschreiben die Menschen, wie während ihrer Kindheit Regenfälle vorhersehbarer und zuverlässiger waren, wie die Felder genug Ertrag brachten, wie die Bäche das ganze Jahr über flossen, wie es mehr Vielfalt und eine größere Zahl von Pflanzen und wilden Tieren gab. Heute erzählen sie meist traurige Geschichten von Knappheit, Klimachaos und bitterer Armut. Ich frage die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Workshops: "Wenn wir unser Verhalten nicht ändern, was wird dann aus der Zukunft?" Die möglichen Szenarien, die sie beschreiben, sind zutiefst erschreckend: "Es wird die Hölle auf Erden sein. Wir werden alles, was wir kennen und lieben, verlassen und in die Städte ziehen müssen. Aber am schockierendsten ist, vielleicht werden wir sogar zu Kannibalen!"
Wir wissen sehr gut, wohin wir uns bewegen
Diese Zukunftsaussichten, die die Menschen sich in den Gemeinden selbst vor Augen führen, sind zu einem wirkungsvollen Instrument geworden, um Reflexionen anzuregen, die zu einer positiven Verhaltensänderung führen können. Viele reagierten beim Nachdenken aufgebracht: "Nein, wir wollen diese düstere Zukunft für uns und unsere Kinder nicht!" Und sie fingen an, sich zu fragen: "Was können wir anders machen?"
Und was ist mit dem Rest der Menschen - in den reichen und armen Ländern - wenn wir nach dem Ende der Corona-Krise wie gewohnt weitermachen? Wohin führt das und welche Auswirkungen hat es auf uns und unsere Kinder, wenn unser Verhalten gegenüber dem Planeten und untereinander gleich bleibt? Wir kennen die Antworten. Wir wissen sehr gut, wohin wir uns bewegen. Die jüngsten katastrophalen Buschbrände, das Absterben der Korallenriffe, das Verschwinden der Seetang-Wälder, beispiellose Dürre- und Sturmereignisse, das drohende Aussterben von über einer Million Arten und das Auftreten neuer Krankheiten sind Vorboten für die Zukunft.
Alle vier Monate tritt beim Menschen eine neue Infektionskrankheit auf. Davon stammen nach Angaben der UNO-Umweltorganisation 75 Prozent von Tieren. Der Klimawandel, vom Menschen verursachte Veränderungen in der Natur und Zerstörungen, die die biologische Vielfalt durcheinander bringen, wie Entwaldungen, Landnutzungsänderungen, intensive Landwirtschaft und Viehzucht oder der wachsende illegale Handel mit Wildtieren, können den Kontakt und die Übertragung von Krankheiten von Tieren auf den Menschen verstärken, wie Covid-19.
Ernsthafte Maßnahmen ergreifen, bevor es zu spät ist
Wissenschafterinnen und Wissenschafter warnen uns seit Jahren. Diese Warnungen sind nicht die wahnsinnigen Visionen von Panikmachern. Sie sind wie die Kanarienvögel in einem Kohlebergwerk, die zu Beginn des Tagesbaus als Frühwarnsysteme eingesetzt wurden. Schon bald bekommen sie keine Luft mehr. Wir müssen drastische Maßnahmen ergreifen, bevor es zu spät ist. Traurigerweise scheint die entwickelte Welt zwar in der Lage zu sein, sich anzupassen, aber die Schwächsten und Ausgegrenzten in der Welt sind völlig unvorbereitet auf das, was auf sie zukommt.
Allein in Folge der Corona-Krise schätzt World Vision, dass die sekundären Auswirkungen der Pandemie das Leben von mindestens 30 Millionen Kindern gefährden wird. Millionen wurden vertrieben und sind immer noch auf der Flucht, leben in ständiger Armut und Konflikten oder in überbevölkerten Gebieten. Nur begrenzt haben sie Zugang zu medizinischer Versorgung. Unser schlimmster Albtraum ist, dass sich das Virus unter diesen Bedingungen hervorragend verbreiten könnte.
World Vision reagiert bereits weltweit und konzentriert sich dabei auf die Länder, in denen es den Menschen am schlechtesten geht. Doch während sich meine Kolleginnen und Kollegen in den Projekten um die unmittelbaren Probleme kümmern, arbeiten sie gleichzeitig an der Bekämpfung der Ursachen. Zig Millionen Hektar Wald konnten in etwa 25 Ländern auf zuvor degradierten Böden wieder aufgeforstet werden. Den Menschen und Kindern in diesen Regionen geht es heute gut.
Anstrengungen beim Klimaschutz verdoppeln
Wenn wir die Corona-Krise überwunden haben, werden wir unsere Anstrengungen verdoppeln müssen, um die befürchteten verheerenden Auswirkungen des Klimawandels abzuwenden. Vieles, was ich in meinen Workshops tue, hat damit zu tun, Feinde zu Freunden zu machen - Feinde der Bäume und der Natur, zu Freunden der Natur. Meine wichtigste Botschaft: Wenn wir mit der Natur arbeiten, anstatt sie zu zerstören, wird sie uns belohnen und wir werden eine bessere Zukunft für uns und unsere Kinder haben. Ich nenne es, das Bewusstsein der Menschen wiederbegrünen.
Wir sind an einem sehr wesentlichen Punkt unserer Geschichte angelangt. Wir müssen anhalten und über die Dinge in unserem Leben nachdenken, die uns am wichtigsten sind. Wir müssen gefährlichen Klimaveränderungen entgegen steuern, Wälder und Ökosysteme erhalten und wiederherstellen, unser Land nachhaltig bewirtschaften und die Umweltverschmutzung stoppen.
Während wir den Tag unserer Mutter Erde am 22. April feiern, wird es sich lohnen, in diesen Tagen des Lock-Down innezuhalten und in uns zu gehen. Anlässlich des heutigen Tags der Erde schreibt die indische Wissenschaftlerin und Aktivistin Vandana Shiva: "Die Erde hat uns durch die Coronavirus-Pandemie eine klare Botschaft gegeben. Es ist unser moralischer Imperativ, diesen Augenblick zu nutzen, um den Übergang zu einer ökologischen Zivilisation zu vollziehen, damit wir die Saat einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit und alle Wesen säen."
Wenn wir nicht nachdenken und uns nicht ändern, werden wir eine Zukunft erleben, die in Lewis‘ Worten auf bedrohliche Weise "immer merkwürdiger und merkwürdiger" wird. Wir sind es uns und unseren Kindern schuldig, unser Verhalten zu ändern.
Hintergrund und weitere Informationen:
https://www.wvi.org/publications/report/coronavirus-health-crisis/covid-19-aftershocks-secondary-impacts-threaten-more