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Was macht einen Hit zum Hit?

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

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Nach dem ungeplanten langen Wien-Aufenthalt von George Michael (hier auf dem Cover - aus dem Jahr 1984 - rechts) ein Grund mehr, dessen All-time-Christmas-Hit heuer wieder zu spielen . . .
© Foto: Archiv

Welcher ist der größte Hit aller Zeiten? Welche drei Hits fallen uns spontan ein, wenn wir an die verflossene Jugendzeit denken, und was berührt uns an diesen am meisten? Kommen künftig noch neue Hits, oder ist alles schon "wegkomponiert" worden? Und gibt es vielleicht ein alchemistisches Erfolgsrezept aus der Hit-Küche für den Popsong der Zukunft? - Fragen über Fragen, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie entziehen sich einer klaren, eindeutigen Antwort, lassen sich stattdessen nur annäherungsweise beantworten.

Am einfachsten ist die Annäherung an den Hitbegriff in etymologischer Hinsicht. "To hit" bedeutet im gegebenen Zusammenhang weniger das Verb "schlagen" als eher "treffen". Ein "Hit" ist demnach ein kommerzieller Treffer. Seiner lexikalischen Bedeutung nach ist der Begriff eindeutig musikalisch konnotiert, obwohl natürlich auch ein Rasenmäher ein "Verkaufshit" sein kann. Als Hit gilt ein Lied oder allgemeiner ein Musikstück, das besonders oft gehört und auch verkauft wird. So beschreiben es etwa die Lexika der Brockhaus-Familie, die auch die Hitparade als "Vorstellung von Hits in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit und/oder ihrer Verkaufszahlen" bezeichnen.

Ein neutraler Begriff

Der Begriff "Hit" wird praktisch überall auf der Welt verstanden - und er ist in qualitativer Hinsicht neutral, bedeutet also keineswegs mangelnde Qualität. "Hit-verdächtig" zu sein heißt weder, dass ein Song Bonbonnières zum Schmelzen bringt, noch dass er sich in zwei öden Akkorden durch einen 4/4-Takt schleppt.

Es gibt auch niveauvolle, sich gut verkaufende Musik, die Hit-Dimensionen erreicht. So gelang es etwa der verstorbenen Amy Winehouse, ohne eine einzige, dezidierte Hit-Single zwei kommerziell sehr erfolgreiche Alben mit durchgängig hörenswerten Songs zu veröffentlichen ("Frank"; "Back To Black"). Die "Hit-Alben" (3,3 Millionen großteils postum verkaufte CDs zwingen zu diesem Ausdruck) enthalten bemerkenswert zeitgeistferne Musik, die auch bei älteren Konsumenten ankommt. Ein Hit kann daher (muss aber nicht) auch in einem künstlerischen "Treffer" liegen.

Wie sehen Musik-Experten den Hit? Eine Sammlung von "Sounds"-Kritiken aus den Jahren 1966 bis 1988, die vor einigen Jahren im Verlag Zweitausendeins erschienen ist, gibt Aufschluss über die konkrete Verwendung des "Hit-Begriffs" im Pop-Sektor. Hier zeigt sich, dass der Ausdruck "Hit" zwar schon in den Sechzigerjahren für erfolgreiche Musik (z,B. "Light My Fire" von den Doors, 1966/67) üblich war, aber von den Kritikern nur sehr sparsam verwendet wurde.

Bei mehrfacher Durchsicht stellt sich heraus, dass der Hit in dem Hamburger Fachblatt zunächst vielfach negativ abgegrenzt wurde. Aber nicht nur: So meinte etwa der Kritiker Rainer Blome, dass die Hitparade von jungen, tanzbegeisterten Menschen beeinflusst würde - und daher nichts Schlechtes daran sei, wenn die Rolling Stones dort vorkämen, zu denen er auch lieber tanzte als zur Musik des (Modern-)Jazzers Charles Lloyd.

Heute bestimmen deutlich ältere Käuferschichten die Hitparaden. Wie Popmusik überhaupt vorwiegend eine Angelegenheit von Dreißig- bis Fünfzigjährigen geworden ist, sowohl was Kritiker als auch Konsumenten betrifft. (Gerald Schmickl hat in seinem Essayband "Lob der Leichtigkeit" heuer nachdrücklich darauf hingewiesen.) Nicht die Taschengeldbezieher, sondern die Financiers der Kids dominieren den Markt. Nur eher selten wachsen große neue Hit-Stars aus Internet-Downloads, selbstgestrickten you-tube-Auftritten oder dem Nachwuchspool der Casting-Shows heran.

Daher schöpfen wir, was Hit-Beispiele betrifft, meistens aus einem älteren Pool. Wenden wir uns daher gleich den alten "Hadern" zu, die alle kennen und immer wieder - wenn auch mit unterschiedlichen emotionalen Reaktionen - hören. Unbestreitbare Longlife-Hit-Qualität weisen natürlich in erster Linie Beatles und Stones-Songs auf.

Erschallt in einem Club etwa das markante Gitarrenthema von "I Can’t Get No Satisfaction", dann geht bis zum heutigen Tag sogleich ein Raunen durch das Publikum, es entsteht eine spontane Bereitschaft "auszuflippen" - und kaum jemand winkt wütend ab, nur weil es sich dabei um die Musik von heute fast Siebzigjährigen handelt. Ähnlich positiv sind die Reaktionen auf ältere Soul-Musik, etwa von Quincy Jones, Donna Summer, Bill Withers oder Earth, Wind&Fire. Hingegen führen Hits von Madonna, den Bee Gees oder Michael Jackson, um nur drei der weltweit erfolgreichsten Kommerzkünstler zu nennen, bis heute zu gespaltenen Reaktionen. Und bei Simply Red oder Kylie Minogue verlassen viele Pop-Fans möglichst rasch den Raum, weil sie sich nicht zu "Kaufhausmusik" bewegen wollen.

Nachhaltige Monotonie

Was sind nun die optimalen Hit-Zutaten neben Beat, Gesang und einem fetzigem Hauptthema? Ein Hit bedarf auch eines markanten Intros, das gegebenenfalls nur aus einem gutturalen Geräusch, wie etwa bei "Le Freak" von Chic, oder in einem gestöhnten Auftakt wie in "Je t’aime . . ." von Birkin/Gainsburgh bestehen kann. Es gibt auch Hits, wie etwa das besagte "Light My Fire" von den Doors, die in ihrer Monotonie gewisse Schwächen aufweisen, aber dank eines markanten Themas (Ray Manzareks Orgelintro) und eines einfühlsamen Gesangs und dessen dramatischer Steigerung (Jim Morrison) dennoch nachhaltig wirken. Der Musiker mit der schlechtesten Hit-Bilanz, gemessen an seiner umfangreichen und qualitativ vielseitigen Diskographie, dürfte wohl Frank Zappa gewesen sein, der es in rund dreißig Jahren nur auf ganze drei Hits brachte ("Bobby Brown", "Dancing Fool" und das in Europa fast unbekannte und selten gespielte "Girl From The Valley").

Dass ein Hit nicht zwingend kraft seiner genuinen musikalischen Gestaltung (Komposition, Harmonien etc) sofort zum Verkaufserfolg führen muss, beweisen nicht zuletzt Coverversionen. Erst Carlos Santanas Band erweckte "Black magic Woman" von Fleetwood Mac zu einem Hit, weil das Original hohl klang und eine eher langweilige Perkussion aufwies. Santana gelang es, Spannung in diesen Song zu bringen, ohne diesem die Lässigkeit und Abgebrühtheit zu nehmen, die er schon in Peter Greens (Original)-Version aufgewiesen hatte.

Schwache Beatles-Cover

An Beatles-Liedern haben sich die meisten Interpreten freilich die Zähne ausgebissen. Es gibt keine "Let it be-Version", die besser wäre als das Original. Songs, die nach der Trennung der Pilzköpfe entstanden sind, wie John Lennons unvergesslicher Hit "Imagine", liegen immerhin in akzeptablen Bearbeitungen vor (etwa von Randy Crawford), ohne freilich das Original in den Schatten stellen zu können, das gerade durch seine grandiose zeitlose Einfachheit besticht.

Eine Besonderheit im Hit-Spektrum stellen Weihnachtslieder dar, da es kaum andere an Feste, Termine oder Jahreszeiten gebundene Songs gibt, sieht man von dem klassischen Summer-West-coast-Sound der Beach Boys sowie expliziten Sommerliedern wie "Summertime" oder "Summer In The City" ab. Weihnachten ist anders: Kaum ein populärer Künstler kann sich der Versuchung und dem Druck der Produzenten entziehen, Weihnachtslieder zu schreiben oder wenigstens zu interpretieren. Alle Jahre wieder erscheinen daher im Dezember dicht gedrängte Kompilationen oder gar Doppel-Alben.

Was macht das Spezifische der Weihnachtshits aus? Die emotionale Komponente beschränkt sich nicht auf positive Eindrücke alleine. Das Spektrum reicht von anregendem Schlitten-Schellenklang, der den Vorweihnachtsstress löst, bis hin zum Reflex, angesichts tausendfacher déjà-vus bzw. déjà-écoutés die Bedienung der Stopptaste zu erflehen. Diesbezügliche Standards können vor allem in Kaufhaus-Atmosphäre zu Würgeattacken führen, aber auch zu Hause bei Jugendlichen zumindest abfällige Grimassen hervorrufen. "Sounds"-Kritiker Rainer Blome schrieb schon im Jahr 1968 anlässlich einer Procol Harum-Kritik treffend von den "alten, bösen Erinnerungen", die wach wurden, wenn er Lieder wie "Jingle Bells" in Versionen der Fünfzigerjahre hören musste. Damals gab es die originelle Yello-Interpreta-tion dieses dem wenig bekannten James Pierpont zugeschriebenen Liedes noch nicht - und vielleicht litt Blome ja auch an einer nachvollziehbaren Bing-Crosby-Allergie. . .

Jazzige Weihnachten

Deswegen müssen Weihnachtslieder, Traditionals und Standards freilich kein ewiges Tabu sein. Es gibt gute Aufnahmen aus den Siebzigerjahren, und empfehlenswerte jazzige Kompilationen. Mein persönlicher Favorit ist die stimmungsvolle Kooperation der Sängerin und Pianistin Diana Krall mit dem Clayton/Hamilton Jazz Orchestra ("Christmas-Songs", Verve/Universal 2005). Kaum zu glauben, aber "Let It Snow", "The Christmas Song" und sogar "White Christmas" (von Irving Berlin) erwachen in Kralls Arrangements zu neuem Leben, nachdem gerade dieser Song von allen möglichen Interpreten (von Bing Crosby, Frank Sinatra und Louis Armstrong bis zu The Platters) gesungen, um nicht sagen, platt gedrückt wurde.

Was die derzeit dominierenden Pop-Weihnachts-Hits betrifft, scheiden sich die Geister. Persönlich habe ich durchaus noch ausreichend Substanz, um "Last Christmas" von Wham zu hören - gerade heuer, da George Michael nach Absage seiner Tour den Advent bis vor wenigen Tagen im Wiener AKH verbracht hat. Auch "Drivin’ Home For Christmas" von Chris Rea zählt - zumindest für mich - zu den angenehmeren Weihnachtshits.

Dann wird es aber schon eng mit der Playlist für die Tage um den 24. und 25. Dezember, vor allem wenn es um Songs geht, die altersübergreifend spielbar sein sollen. Meines Erachtens kann es besser sein, etwa Abbas stimmungsvolle "goldene Alben" oder die neue schöne Platte der schwedischen Singer-Songwriterin Anna Ternheim ("Night Visitor") oder den stets hörbaren Lloyd Cole ("Broken Record") aufzulegen, statt Weihnachtslieder von Michael Jackson ("Little Christmas Tree"), Stevie Wonder ("Merry Christmas To You"), oder Elton John ("Step Into Christmas") zu spielen, denen allesamt etwas Zwänglerisches anhaftet.

Bevor Weihnachtsstimmung gewaltsam aus allen Rillen und Scheiben gepresst wird, ist es allemal besser, die Musik der Stimmung anzupassen und nicht zu versuchen, durch Ambiente Beschaulichkeit zu erzeugen.

Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Literaturtipp: Robert Dimery: 1001 Songs. Edition Olms, 2011.