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Was oft hinter Essstörungen steckt

Von Frank Ufen

Wissen

Ursache kann Mangel an Neuropeptiden sein. | Immer öfter männliche Jugendliche betroffen. | Marne/Holstein.Die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa)


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gehören zu den schwersten Essstörungen überhaupt. Dass psychische und sozio-kulturelle Faktoren einen erheblichen Anteil an ihrer Entstehung haben, ist unumstritten. Es gibt jedoch noch

eine weitere Ursache: ein aus dem Gleichgewicht geratenes Immunsystem, das bestimmte körpereigene Botenstoffe angreift. Darauf deuten die Resultate einer Studie hin, die ein schwedisch-estnisches Forscherteam unter der Leitung von Serguei Fetissov vom Karolinska Institut in Stockholm durchgeführt hat.

Schon seit längerem weiß man, dass Menschen, die unter Mager- und Ess-Brechsucht leiden, etwas Wesentliches gemeinsam haben: Eine bestimmte Gruppe von Gehirn-Botenstoffen, die Neuropeptide, ist bei ihnen nur in äußerst geringer Konzentration vorhanden. Eines dieser Neuropeptide - das Alpha-MSH - spielt offenbar eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des Hungergefühls und des Körpergewichts. Andere dieser Neuropeptide sind an der Steuerung des sozialen Verhaltens und von Stressreaktionen beteiligt. Die Ursache dieses viel zu niedrigen Botenstoff-Spiegels war bisher unbekannt. Doch jetzt ist ihr Fetissovs Team auf die Spur gekommen. Als die Wissenschafter nämlich das Blut von zwölf Anorexie- und 42 Bulimie-Patientinnen untersuchten, stießen sie auf jede Menge Antikörper. Diese Antikörper attackieren, stören oder blockieren die Neuropeptide, in erster Linie aber das Alpha-MSH, und je mehr sie sich im Blut ansammeln, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass gravierende Essstörungen auftreten.

Die Sache hat allerdings einen Haken. Antikörper, die gegen das Alpha-MSH gerichtet sind, sind auch bei weiblichen Testpersonen ohne Essstörungen nachweisbar. Nach Fetissov liegt das daran, dass die Antikörper eigentlich bestimmte Krankheitserreger wie den Heliobacter- oder das Influenza-A-Virus bekämpfen sollen, aber sich schwer damit tun, diese vom MSH zu unterscheiden. Er vermutet deshalb, dass es nicht allein von der Zahl der Antikörper abhängen kann, ob es zu einer Essstörung kommt.

Möglicherweise werden sie erst dann gefährlich, wenn es ihnen gelingt, ins Gehirn einzudringen. Das geschieht jedoch erst, wenn die Blut-Gehirn-Schranke durch ständigen Stress immer mehr durchlöchert wird. Dieser ständige Stress ist auch eine Folge des heute immer weiter um sich greifenden gesellschaftlichen Körper- und Schlankheitskults.

Auch immer mehr männliche Jugendliche und Männer leiden an Mager- und Ess-Brechsucht, und die Patienten werden immer jünger. Nach Erkenntnissen von Medizinern der Universität Halle weisen in Deutschland heute schon sechs Prozent der 15 bis 16 Jahre alten Schülerinnen und Schüler die typischen Symptome der Bulimie auf.

Verzerrte Wahrnehmungdes eigenen Körpers

Der Neuropsychologe Boris Suchan (Ruhr-Universität Bochum) entdeckte gerade einen weiteren Umstand, der Essstörungen hervorrufen könnte: Berechnungsfehler, die dem Gehirn ständig unterlaufen. Suchan hat zunächst je 15 annähernd gleichaltrige magersüchtige und gesunde Frauen gebeten, von mehreren unterschiedlichen Silhouetten auf dem Computer-Bildschirm diejenige auszuwählen, die sie als die ihrer eigenen Figur am meisten ähnelnde beurteilten. Anschließend traten zwei andere Gruppen von Frauen auf den Plan. Sie erhielten die Aufgabe, anhand von Fotos die Versuchsteilnehmerinnen den passenden Silhouetten zuzuordnen. Dabei neigten die gesunden Probandinnen dazu, sich selbst etwas schlanker einzustufen, als sie von den anderen Frauen anhand der Fotos eingeschätzt wurden.

Die an Magersucht leidenden Probandinnen hingegen waren in den Augen der anderen viel dünner, als sie sich selbst empfanden - ein unmissverständliches Indiz für eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Anschließend wurden die Gehirne sämtlicher Probandinnen im Kernspintomografen untersucht. Dabei stieß Suchan bei den magersüchtigen Patientinnen auf eine deutlich verringerte Masse an Neuronen in zwei Gehirnarealen. Von der einen dieser beiden Regionen weiß man heute, dass sie in erster Linie für die visuelle Wahrnehmung des menschlichen Körpers zuständig ist. Die andere Region wird ebenfalls mit der Verarbeitung von Körperbildern in Verbindung gebracht.

Diese Befunde lassen vermuten, dass Magersüchtige mit einem fehlgesteuerten Gehirn zu kämpfen haben, das ihnen vorgaukelt, einen zu fetten Körper zu haben. Es könnte freilich auch sein, dass die in bestimmten Gehirnteilen auftretenden Anomalien nur Folge oder Begleiterscheinung der Magersucht sind. Diese Frage müssten weitere Studien beantworten, meint Suchan.