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Die britischen Medien berichten jeden Tag über neue Studien und mehr oder weniger skurrile Aussagen zum britischen EU-Austrittsreferendum am 23. Juni. Je näher der Termin rückt, desto hitziger wird die Debatte, desto stärker hauen Befürworter und Gegner des Austritts aufeinander ein.
Bisher ging es den Brexit-Gegnern primär um wirtschaftliche Argumente ("Händlernation"). Sie rechneten vor, dass ein Austritt jede Familie 4600 Pfund kosten würde; der (aus Kanada stammende) Notenbankchef befürchtet tiefe Depression und Rezession, viele Unternehmer und die Labour Party rechnen mit lang andauernder Unsicherheit "auf den Märkten" und damit gegenteiligen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Austrittsbefürworter tun dies alles als Panikmache ab und versprechen beim Austritt (fast) das Paradies auf Erden. Sie betonen hauptsächlich die hochgespielte "Wiedergewinnung der Souveränität" und damit die Möglichkeit, die ungeliebte Einwanderung von EU-Bürgern ins gelobte Vereinigte Königreich stoppen zu können.
Da sich die Brexit-Befürworter bisher über das mögliche Modell der britischen Annäherung an die EU (nach Vorbild der Schweiz, Norwegens oder Albaniens) ausschweigen, könnte den Briten bei einem für die Austreter erfolgreichen Referendum noch eine böse Überraschung bevorstehen: Die Schweiz zahlt und muss für ihre Teilnahme am Binnenmarkt freien Zugang von EU-Bürgern zum Arbeitsmarkt garantieren.
Im grundsätzlich strategieschwachen Österreich gibt es von offizieller Seite keine Szenarien. Was könnte also bei einem erfolgreichen Brexit-Votum passieren?
Im Außenhandel tut sich zwischen Österreich und Großbritannien wenig: Etwa 3 Prozent unserer Ausfuhren gehen ins Vereinigte Königreich, und 2 Prozent unserer Importe kommen von dort. Das ist fast vernachlässigbar, wenn auch nicht unwichtig.
Je nach Ausgestaltung der britischen Beziehungen zur EU (und da hat auch Österreich ein wichtiges Wörtchen mitzureden) könnten weniger Österreicher den britischen Arbeitsmarkt beleben, doch hat sich dies bisher mit Ausnahme des Finanzsektors in engen Grenzen gehalten.
Innerhalb der EU-Entscheidungen würde mit den Briten einerseits ein schwieriger, sich in den vergangenen Jahren in vielen Belangen abseits haltender Partner wegfallen - und sich jedenfalls das Gewicht der Marktliberalen, die dauernd "Reformen" fordern, verringern. Andererseits würde sich das Gewicht Deutschlands vergrößern, wenn die zweitgrößte EU-Ökonomie austräte: angesichts der übertriebenen Stabilitätsorientierung Deutschlands eher ein Nachteil für Österreich. Vorteilhaft wäre es, da ein extremer und strikter Verweigerer von Steuerharmonisierung endlich wegfiele, der die Eskalation von Unternehmenssteuern nach unten mit betrieben hat (zuletzt durch "Patentboxen").
Im Finanzbereich käme es sicher zu einer graduellen Umschichtung von Finanzgeschäften aus London nach Frankfurt und Paris. Für Österreich wäre dies eher neutral.
Im politischen Bereich würde die EU - und damit Österreich - durch einen Austritt geschwächt und vom östlichen, westlichen und südlichen Ausland als weniger relevant wahrgenommen.
Der wichtigste Effekt wäre ein indirekter: Durch einen Sieg der Brexit-Befürworter würden sich die deutsche AfD, der französische Front National, die FPÖ, die nationalistischen und Anti-EU-Kräfte in Europa gestärkt fühlen. Weitere Referenden könnten folgen. Ob dies, wie einige fürchten, zu einem Zerfall der EU führen oder "nur" eine langfristige Phase der Desintegration und der Unsicherheit einleiten würde, bleibt Spekulation. Jedenfalls würde die Wirtschaft weiter stagnieren, das Vereingte Königreich auseinanderbrechen (Schottland hat für diesen Fall ein weiteres Separatismus-Referendum mit Pro-EU-Ausrichtung angekündigt) und den nationalistischen und xenophoben Parteien der Rücken gestärkt, was zu einem Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit entsprechenden Folgen führen könnte.
Für einige dieser Auswirkungen könnte und sollte sich das offizielle Österreich schleunigst vorzubereiten beginnen. Wir können den Ausgang des britischen EU-Referendums zwar nicht beeinflussen, ein Ja der Austrittsbefürworter wäre aber auch für Österreich jedenfalls mit negativen (wenn auch indirekten) Folgen versehen. Die neue Bundesregierung und der neue Bundespräsident sollten rasch in einen Dialog treten. In 37 Tagen ist es zu spät!
Kurt Bayer ist Ökonom. Er war Board Director in Weltbank (Washington) und EBRD (London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium.