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EU und Europarat kritisieren autoritäre Tendenzen|Ex-Präsident Pal Schmitt ermöglichte Umsetzung einer umstrittenen Wende.
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Budapest.
Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt und 1972 in München machte Pal Schmitt eine bessere Figur als in der Rolle des ungarischen Staatspräsidenten: Zweimal errang der Degen-Fechter Olympisches Gold, nur als Politiker konnte er nicht punkten: Am Montag musste Schmitt zurücktreten, weil die Anschuldigungen, er habe seine Dissertation abgeschrieben, übermächtig wurden. Die rechtskonservative Fidesz-Partei, die im Parlament über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt und damit fast unumschränkte Macht ausübt, ließ "ihren Mann" zuletzt fallen. Nach kurzem Rückzugs-Gefecht gab der 69-jährige Schmitt bekannt, dass er den Hut nehme. Den Verlust seines Doktortitels freilich will er nicht so ohne weiteres hinnehmen. Gegen die Entscheidung der Semmelweis-Universität wird er klagen.
Folgsamer Staatsnotar
Schmitt, so lautet das Fazit der internationalen Kommentatoren, war in den knapp zwei Jahren seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt vor allem eines: treuer Erfüllungsgehilfe von Premier Viktor Orban. Dieser hatte ihn in das formell höchste Amt im Staat gehievt, diesem diente er als folgsamer Staatsnotar. Nachdem er den Degen beiseite gelegt hatte griff Schmitt zur Feder und segnete allein im Vorjahr mehr als 300 neue Gesetze ab - ein neuer Rekord. Weil die Opposition im Parlament keine Bedeutung hat wäre Schmitt der Einzige gewesen, der sein Veto gegen die Gesetzesflut der Regierung Orban hätte einlegen können - was er wohlweislich nicht tat. Nun sind höchst umstrittene und problematische Neuerungen in Kraft und werden auch von einer möglicherweise linken Nachfolgeregierung nur sehr schwer abzuändern sein.
Die Reformen, denen Schmitt sein Sanctus gab, haben es in sich: Viele stehen in Widerspruch zu den EU-Verträgen, viele untergraben den Rechtsstaat und gefährden die Demokratie - sagen Institutionen wie der Europarat. Man ist besorgt in Europa und fragt sich, in welches fragwürdige Fahrwasser die Magyaren vor zwei Jahren geraten sind.
Für Kopfschütteln und Amüsement und Besorgnis sorgt etwa die neue Verfassung, die Orban dem Land verpasst hat und die seit dem 1. Jänner 2012 in Kraft ist. Das ideologische Fundament der regierenden Fidesz-Partei tritt hier jedenfalls ziemlich ungeschminkt zu Tage. In der Präambel des in der Verfassung formulierten Grundgesetzes steht ein "Nationales Glaubensbekenntnis", das mit der ersten Zeile der ungarischen Nationalhymne "Gott segne den Ungarn" beginnt. Im weiteren Text wird die "Heilige Krone", die Stephan I., dem ersten König Ungarns, um das Jahr 1000 auf das Haupt gestülpt wurde, zur "Verkörperung der staatlichen Kontinuität Ungarns" erklärt. Der Schutz des Embryos ist ebenso in der Verfassung verankert wie das Verbot, Menschen zu klonen. Die ungarische Konstitution weist außerdem darauf hin, dass eine Eheschließung nur zwischen Mann und Frau in Frage kommt. In einem Zusatz zum neuen Grundgesetz wird erklärt, dass die in Opposition befindliche Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) als Rechtsnachfolgerin der Kommunisten die Verantwortung für die Taten der KP vor der Wende 1989 trage. Und: Die tatsächlich abzusitzende lebenslange Strafe ist den neuen Regierunden so wichtig, dass sie in den Verfassungsrang erhoben wird.
Das Werk wird von Orban selbst als "ästhetisch schön" gepriesen, Juristen aber staunen: Hier finden sich Formulierungen, die, wenn man alle anderen europäischen Verfassungen als Vergleichsgegenstand heranzieht, so heute nicht mehr üblich sind. Die Experten wundern sich, warum Dinge in Verfassungsrang erhoben wurden, die üblicherweise durch ganz normale Gesetze geregelt werden. Auf der anderen Seite verweisen viele Bestimmungen auf noch zu beschließende "normale" Gesetze. Das birgt Unsicherheiten, die heute nicht abschätzbar sind.
Identitätsprobleme
Wenig diplomatisch formuliert jedenfalls der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg, was er von der Sache hält. Die ungarische Verfassung, so der stets Pfeife rauchende Fürst, erinnere ihn an den österreichischen Ständestaat 1934 bis 1938. Das darin verwendete Vokabular sei "altmodisch". Es gemahne an das 19. Jahrhundert, so der Adelsspross, dessen Stammbaum sich bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen lässt. Mitten in eine offene Wunde stößt offenbar der in Berlin lebende liberale Autor György Dalos. Er attestiert den Ungarn "Identitätsprobleme" und ein "hysterisches Verhältnis zum eigenen nationalen Ich". Die politische Rechte in Ungarn sei viel radikaler als etwa die FPÖ in Österreich, warnt er.
EU-Kommission und Europarat haben mögen die Eigenheiten der neuen ungarischen Verfassung mit einem Achselzucken hingenommen haben, bei den anderen im Eiltempo durchgezogenen Reformen im Justizwesen, im Medienbereich, beim Datenschutz und in der ungarischen Zentralbank herrscht aber Alarmstufe Rot: Die Brüsseler Behörde leitet Verfahren wegen Verletzung der EU-Verträge am laufenden Band ein, oder droht damit. Das Sündenregister Orbans ist lang. Die Justizreform, die von der Regierung mit Nachdruck betrieben wird, gilt in Brüssel als gefährlich. Sie sieht die Einführung eines Landesrichteramtes vor. Die Leiterin dieser Behörde kann Richter ernennen und versetzen, sie entscheidet völlig frei, welcher Richter welchen Fall bearbeitet. Sie unterliegt dabei keiner Rechenschaftspflicht oder juristischer Kontrolle und wird für neun Jahre vom Parlament gewählt. Ihr Mandat kann mit einer Ein-Drittel-Mehrheit auf unbegrenzte Zeit verlängert werden. Der Europarat veröffentlicht in einer Studie eine Warnung, die nicht deutlicher sein könnte: In keinem anderen europäischen Land gebe es eine solche Justizbehörde, in der eine einzige Person so viel Macht ausübe. Die EU-Kommission forderte die Regierung in Budapest auf, die Reform abzuändern. Sonst, so droht man in Brüssel nicht zum ersten Mal, werde ein Verfahren eingeleitet.
Nicht nur die Justiz, auch die Unabhängigkeit der ungarischen Datenschutzbehörde sieht die Kommission gefährdet. Hier liegt das Problem darin, dass der ungarische Präsident auf Vorschlag des Premiers den Chef der Datenschutzbehörde mit einem Federstrich absetzen kann. Budapest hat in dieser Frage aber immerhin Gesprächsbereitschaft signalisiert. Die regierende Fidesz-Elite versucht außerdem, Einfluss auf die Entscheidungen der ungarischen Nationalbank zu bekommen. Hier wurde ein Verfahren wegen Verletzung der EU-Verträge bereits eingeleitet.
Laut Brüsseler Vorgabe muss die Zentralbank frei von politischem Einfluss über Zinsen entscheiden und für Preisstabilität sorgen können. Die Regierung Orban nimmt das nicht hin. Ungarns Notenbankchef Andras Simor - er ist kein Orban-Mann - steht unter Druck. Er bekommt einen Stellvertreter zur Seite gestellt, das Führungsgremium der Notenbank wird zusätzlich personell erweitert. Simor ist empört und bezeichnet den zusätzlichen Stellvertreterposten als einen "politischen Kommissar". Die Europäische Union, vor allem die EZB, protestiert - bis jetzt ohne großen Erfolg. Zu allem Überfluss soll die ungarische Zentralbank mit der Finanzaufsichtsbehörde zusammengelegt werden - wobei ein neuer Präsident berufen und der Zentralbankchef zu dessen Stellvertreter degradiert wird.
"Säuberungswelle"
Großes Unbehagen herrscht seit längerem in der ungarischen Medienlandschaft. Seit dem Sommer 2011 sind in den öffentlich-rechtlichen Medien Massenentlassungen im Gang, die Opposition spricht von einer "Säuberungswelle", die ihresgleichen suche. Auch der Justizbereich wird personell umgekrempelt. Nicht genehme Richter und Staatsanwälte, so sieht es die Opposition, werden einfach frühzeitig pensioniert. Im öffentlich-rechtlichen Medienbereich ist ein Drittel aller Beschäftigten vom Abbau betroffen, nicht genehme Nachrichtenchefs werden wegen "schwerer Fachfehler" gefeuert. Die Regierung Orban spricht von einem notwendigen Sparprogramm, immerhin kämpft das Land gegen ein enormes Budgetdefizit an.
Die für Medien zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes sieht ganz unumwunden die Meinungsfreiheit in Gefahr. Sie fordert die Regierung auf, mehr Radio-Lizenzen zur Verfügung zu stellen. Oppositionelle Sender würden keine nötigen Berechtigungen erhalten, so Kroes. Die EU-Kommission werde künftig besonders darauf achten, dass Medien-Pluralismus in Ungarn gewährleistet werde, so die EU-Kommissarin. Auf Druck aus Brüssel musste die Orban-Regierung Anfang des vergangenen Jahres bereits Änderungen an ihrem höchst umstrittenen Mediengesetz vornehmen. So wurde eine ursprünglich vorgesehene Pflicht zur "ausgewogenen Berichterstattung" dann doch nicht für alle Medien verbindlich gemacht. Eine neue Medienbehörde kann aber weiterhin gegen Tageszeitungen Strafen in sechsstelliger Euro-Höhe verhängen.
Im Sozialbereich hat die Fidesz-Regierung Gesetze erlassen, die in Europa auf ungläubiges Stauen stoßen. So wurde Obdachlosigkeit unter Strafe gestellt - und Armut damit kriminalisiert. Obdachlose werden mit Haft belegt, wenn man sie erwischt. Einen positiven Effekt hatte das Gesetz im letzten Winter freilich nicht. 200 Menschen starben auf Ungarns Straßen, wo sie gar nicht hätten sein dürfen.
György Dalos ist einer der Intellektuellen, die sich angesichts dieser Entwicklung Sorgen um ihre Heimat machen: "Alles, was ihnen im Weg steht, versuchen sie irgendwie aus der Welt zu schaffen", urteilt er über die rechtskonservative Regierung. Eine Bertelsmann-Expertenstudie zur Demokratieentwicklung in Ländern des ehemaligen Ostblocks hat ihre eigenen Schlüsse gezogen: Lag das Land 2006 im regionalen Vergleich zur Demokratieentwicklung noch auf Platz vier, bildet es in der neuesten Studie auf Platz 17 das Schlusslicht.