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Was uns erspart bleibt

Von Wolfgang Tumler

Reflexionen

Obwohl allabendlich gestorben wird, ist der Tod in Spielfilmen und TV-Serien ein ausgeblendetes Geschehen. Versuch einer empirischen Annäherung an das Unzeigbare anhand einer "Tatort"-Folge.


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"Weißt du, was das Wichtigste im Leben ist? Das Wichtigste im Leben ist, dass du Spaß hast!" Die Berechtigung für ihre erfolgreiche Familienunterhaltung am Sonntagabend könnten ORF und ARD nicht besser begründen als mit dieser Weisheit aus dem Mund eines Verdächtigen in der Sendung "Tatort" vom 15. September 2013.

So beginnt die "Tatort"-Folge "Angezählt: Der 12-jährige Ivo richtet seine mit Benzin gefüllte Spritzpistole auf die rauchende Julia . . .
© Foto: kommentatort.ch, ORF

In Deutschland wurde die vom ORF produzierte Folge "Angezählt" prompt mit einem Grimmepreis für den besten unterhaltenden Fernsehfilm ausgezeichnet. Darin erleidet eine junge Frau schwere Verbrennungen, die ihr ein Bub mit einer Spielzeugpistole im Auftrag des Verdächtigen zugefügt hat, und "die Ärzte glauben nicht, dass sie die Nacht überleben wird".

"Reinigungsritual"

Zum TV-Krimi gehört der Mord, und beim "Tatort" hat dieser in den ersten Minuten zu geschehen, damit die Familie sich zurücklehnen und die von Schauspielern gespielte Polizei sich der Aufklärung zuwenden kann. Ursprünglich als eine Reihe von Krimis mit lokalen und sozialen Bezügen im Fernsehen der frühen siebziger Jahre gestartet, ist das "Format", wie solche seriellen Sendungen inzwischen genannt werden, zu einer der erfolgreichsten Marken der TV-Unterhaltung im deutschsprachigen Raum aufgestiegen - mit bis zu zwölf Millionen Zuschauern pro Sendung.

. . . kann aber danach aufgrund seines Alters für den Mordanschlag nicht haftbar gemacht werden.
© Foto: kommentatort.ch, ORF

Die Wiener Burgtheater-Schauspielerin Caroline Peters, neuerdings im "Eifel-Tatort" unterwegs, wünscht sich in der "Süddeutschen Zeitung" "einen Krimi, der keiner mehr sein will, aber noch nicht weiß, wie er sich von der Blutlache zum Familienepos entwickeln soll". Der "Tatort" hat das längst geschafft. Ursprünglich gehörte er nur um 20.15 Uhr ins Zeitfenster des ausklingenden Sonntagabend wie am Morgen der Kirchgang.

Im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" nennt der Philosoph Wolfram Ellenberger die Sendung ein "gesellschaftsdeckendes Reinigungsritual" - Rundfunkgebühren als Ablasshandel. Die wachsende Medienvielfalt und die Gier nach unserer Aufmerksamkeit in Konkurrenz mit anderen Medien haben die Verantwortlichen in den Sendern dazu verleitet, eine Inflation auszulösen, die uns inzwischen auf den verschiedenen Kanälen bis zu 400 "Tatort"-Sendungen im Jahr beschert. An manchen Abenden laufen bis zu vier Wiederholungen nebeneinander - mit demnächst zweiundzwanzig Ermittlerteams.

Das übersteigt die Frequenzen von Kirchgang und anderen Bußfertigkeiten bei weitem, und es droht die Entwertung des öffentlich-rechtlichen Tafelsilbers. So wird die darstellende Prominenz nun mit schicken Fotostrecken und gescheiten Zitaten in die feineren Printmagazine geschickt, um das "Format" zu stabilisieren.

Ulrike Folkerts alias Lena Odenthal als dienstälteste Kommissarin hinterlässt allerdings den Eindruck, der "Tatort" zeige "das Leben nicht mehr so, wie es nun mal ist. Ich muss als Tatort-Kommissarin, vor allem als Frau, immer mitfühlen, immer Verständnis zeigen, nicht über die Stränge schlagen, stets auf der Seite der Schwächeren sein. Das ist nicht nur vorhersehbar, das ist auch langweilig."

Es geht im TV-Krimi halt doch nicht zu wie im richtigen Leben - eine Binsenweisheit. Die meisten Morde werden eher im persönlichen Umfeld oder in der Familie begangen und weniger in betreuungswürdigen Soziotopen. Gerade dort aber hat die Jury des angesehenen Grimmepreises die herausragende Qualität des ORF-"Tatorts" "Angezählt" verortet und diesem in der Geschichte von über 900 "Tatort"-Sendungen erst zum siebenten Mal die preiswürdige Grätsche zwischen Anspruch und Unterhaltung testiert.

Liste der Todesarten

Der Philosoph Michel de Montaigne phantasierte bereits im 16. Jahrhundert: "Wenn ich ein Bücherschreiber wäre, legte ich ein kommentiertes Register der verschiedenen Tode an". Der "Tatort" tut das längst: Von durchgeschnittenen Kehlen, Kopf- und Knieschüssen, Bombenanschlägen, Schwerthieben bis eben zum Brandanschlag auf eine junge Frau mittels einer mit Benzin gefüllten Spielzeugpistole reicht die Liste der Todesarten, die - nicht nur in Österreich - vom wahren Leben und vor allem Sterben gehörig abweicht.

In der eigenen Lebenswirklichkeit überfordern uns der Anblick und die Gewissheit solcher Grausamkeiten, aber im Film "entzieht sich der Tod einer Filmfigur jeder empirisch zuverlässigen Prüfung, wie sie in der Lebenswelt von den Überlebenden unternommen wird. In den meisten Fällen sind es daher die anderen anwesenden Filmfiguren, die den endgültigen Tod ihres Gegenübers bezeugen und für den Zuschauer verkünden müssen". So nähert sich der Filmwissenschafter Johannes Wende in seiner Analyse "Tod im Spielfilm" der Frage, ob das gespielte Sterben vergleichbare ethische Forderungen an uns stellt wie das Leben selbst.

In der 33. Minute des "Angezählt"-"Tatorts" verrät die Filmfigur Bibi Fellner (siehe dazu auch Interview mit Adele Neuhauser auf den Seiten 38/39, Anm.) ihrem Kollegen Eisner: "Hab grad einen Anruf gekriegt. Die Julia ist vor zehn Minuten gestorben." Als Zuschauer haben wir die Botschaft schon zuvor im trostlosen Blick der Schauspielerin empfangen, als sie spielt, die Todesnachricht am Telefon zu hören.

Julias Sterben wird also in die erzählerische Ellipse zwischen Brandanschlag und Telefonat gelegt. "Obwohl ein dramaturgisch wichtiger Moment, verharrt die Kamera häufig außen vor, wenn es darum geht, den unerfreulichen und in seiner physischen Realität stets konstruierten Tod im Spielfilm darzustellen", verrät Wendes Analyse.

Was also bleibt uns erspart, was geht im Körper einer jungen Frau vor, wenn sie mit Hilfe eines Feuers vom Leben zum Tode befördert wird? Dieser Frage gehen wir anhand besagter und ausgezeichneter "Tatort"-Folge nach, die folgendermaßen beginnt: Die Bulgarin und ehemalige Zwangsprostituierte Julia Bakalova, 29, arbeitet als Kellnerin auf einer Bowlingbahn in Wien. Ihr ehemaliger Zuhälter und Peiniger, den sie ins Gefängnis gebracht hat, taucht wieder auf. Als sie von ihm übel angemacht wird, flüchtet sie in eine Zigarettenpause draußen vor dem Gebäude. Dort dreht Ivo, 12 Jahre alt, ein paar Runden auf seinem Fahrrad und umkreist die nervös rauchende Julia, bis es der zu viel wird und sie ihn wegjagen will. Ivo hebt eine bunte, ziemlich große Spielzeugpistole und beschießt Julia mit einer Flüssigkeit. Zuerst wird der Ärmel nass, dann der Rücken ihrer Jacke.

Als die Flüssigkeit auf Julias brennende Zigarette trifft, entpuppt sie sich als Benzin - und innerhalb von Sekunden steht Julia von Kopf bis Fuß in Flammen. Lars Kamolz nennt das einen "Docht-Effekt". Die meisten Brandopfer brennen im Stehen an, und sofort entwickelt sich wie bei einer Kerze ein flammender Sog nach oben, der das Opfer binnen kurzem in eine leuchtende Fackel verwandelt.

Brandverletzungen

Dr. Lars Kamolz, 1972 in Berlin als Sohn eines Kaufhausdirektors geboren, ist Universitätsprofessor und Leiter der Abteilung für plastische, ästhetische und rekons-truktive Chirurgie an der Medizinischen Universität Graz - ein Spezialist für die Behandlung von Brandverletzungen. Zusammen mit Frau Prof. Smolle-Jüttner hat er einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrennungen herausgegeben. Wegen des Docht-Effekts rät Kamolz dazu, ein Brandopfer wie Julia Bakalova möglichst schnell auf den Boden zu legen und das Feuer zu ersticken.

Das Ausmaß ihrer Verbrennung ist abhängig von der Temperatur und der Einwirkungsdauer. Auch die Art der Wärmequelle spielt eine Rolle - in diesem Fall brennendes Benzin. Julias Lunge wird beim Einatmen von Rauch, Dämpfen und Rückständen giftiger Stoffe aus synthetischen Teilen ihrer Kleidung einem sogenannten Inhalationstrauma ausgesetzt. Dabei kann es zum Verschluss der Atemwege oder zu einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung kommen, bei der der Sauerstofftransport von der Lunge zur Zelle gestört wird.

Entscheidend für die Schwere der Verletzung sind jetzt der Verbrennungsgrad und der Anteil der geschädigten Körperoberfläche. Bei Temperaturen von 70 Grad Celsius und höher kommt es innerhalb von Sekunden zu einer drittgradigen - der schwerstmöglichen - Verbrennung.

Ähnlich den Schalen einer Zwiebel hat die Haut verschiedene Schichten, von denen zunächst nur die eine zerstört, die nächste teilweise noch am Leben und die nächste darunter völlig vital sein mag. Verbrennungen dritten Grades führen darüber hinaus zum Verlust von Haaren und Nägeln sowie zu Durchblutungsstörungen, die auf andere Organe übergreifen können.

Multifunktionsversagen

Sind rund 20 Prozent oder mehr der Körperoberfläche verbrannt, ist mit einer sogenannten Verbrennungskrankheit zu rechnen. Dabei werden vermehrt Botenstoffe ausgeschüttet, die den Körper belasten. Das "capillary leak syndrome" tritt sehr rasch auf und lässt Flüssigkeit in das Gewebe ausströmen. Das Missverhältnis von Flüssigkeitsvolumen und Bedarf löst einen Schock aus. Der Schockzustand führt zu einer weiteren Verschlechterung der Hautdurchblutung, und infolge dessen kommt es zu einem sogenannten Nachbrennen.

Eine anfänglich oberflächlich wirksame Verbrennung wird tiefer. Die örtliche Schädigung der Haut führt bei so ausgedehnten Verletzungen und infolge der Verbrennungskrankheit zu umfassenden Regulierungs- und Funktionsstörungen, die schließlich alle Organe und Organsysteme wie Herz, Niere und Darm bis zu einem tödlichen Multifunktionsversagen betreffen können.

Während der Dauer der Verbrennungskrankheit wirkt sich außerdem jede Infektion verheerend auf die Überlebenschancen aus. Die natürliche Hautbarriere ist zerstört, die allgemeine Abwehrlage deutlich reduziert und die Durchblutung empfindlich gestört.

Weit mehr als die Hälfte aller Todesfälle in Folge von Verbrennungen sind auf Infektionen zurückzuführen, und für Julia Bakalova gibt es in diesem Drama nur noch eine einzige gute Nachricht: Verbrennungen dritten Grades schmerzen nicht mehr.

Wolfgang Tumler, geboren 1947, Stiefsohn des Südtiroler Schriftstellers Franz Tumler, war bis 2010 TV-Produzent in Berlin und lebt nun als Autor in Wien.