Herbert und Eleonore Schister feiern demnächst Diamantene Hochzeit – und blicken nach 60 Jahren Ehe gemeinsam zurück.
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Zwei Leben, eine Begegnung, sechzig Jahre gemeinsames Glück. Heute ist das kaum mehr vorstellbar. Zu schnelllebig sind unsere Zeiten, zu groß das "Angebot", zu verlockend das Versprechen, dass da noch etwas Besseres kommen würde. Aber in dieser Geschichte geht es genau darum: zwei Leben, eine Begegnung, sechzig Jahre Glück.
Herbert und Eleonore Schister lernten sich in der Wohnung ihrer Eltern in der Wiener Stromstraße in Wien-Brigittenau kennen, seine Schwester war schwanger von ihrem Bruder. Er sollte den Beistand bei der Hochzeit machen, seine erste eigene Ehe war bereits gescheitert, da war er erst 19.
Als G’scherter nach Wien
Geboren wurde er 1941 in Safenau südlich von Hartberg in der Steiermark. Seine Mutter war 1914 in Wien zur Welt gekommen - warum und wann sie danach in die Steiermark gezogen ist, weiß er nicht mehr genau. Auf einem ärmlichen Bauernhof wurde sie großgezogen und lernte einen Steirer kennen, mit dem sie in der Folge sechs Kinder hatte, aber die große Liebe war es nicht: "Der Vater war immer auswärts und dann auch im Krieg", erzählt Herbert.
Die Resl, seine älteste Schwester, kam im Nachbarort bei einer Familie unter, die selbst keine Kinder hatte, so war das damals. Aber auch mit den restlichen Kindern konnte die Mutter nicht am Hof bleiben, sie bezogen eine kleine Wohnung mit Küche und einem einzigen Zimmer, in dem sie alle schlafen mussten. Zu essen jedoch gab es immer genug, "weil wir viel gekriegt haben von den Zieheltern der Mama: die Milch, ein gutes Geselchtes ... Es ist uns nicht schlecht gegangen", sagt er.
In Unterrohr besuchte er die Volksschule. "Wenn ich hätte weiter in die Schule gehen wollen, hätte ich nach Graz fahren müssen." Er wollte lieber Automechaniker lernen, aber in der Werkstatt, die er dafür im Auge hatte, sagte man ihm: "Kommen S’ in zwei, drei Jahren wieder." Als 14-Jähriger war er bereits mit den Handwerkern, die am Wochenende gepfuscht haben, mitgegangen, "da hab ich schon ein bisserl ein Geld verdient". Statt Automechaniker lernte er also Maurer beim Singer in Hartberg - "60 Wochenstunden!" -, und ging anschließend nach Wien, weil er "draußen" keine Arbeit gekriegt hat.
"Ich hätte müssen in die Obersteiermark hinauf fahren nach Kapfenberg oder so. Aber sobald es dort im Winter kalt geworden ist, haben sie dich gleich stempeln geschickt, und die Monate hätten mir dann bei der Pension gefehlt." Er stieg am Südbahnhof aus, wo er Arbeiter der Firma Hofman & Maculan sah. Die fragte er gleich, ob sie einen wie ihn brauchen könnten - nicht groß, nicht stark, aber fleißig. Und schon am nächsten Tag fing er an.
Im Firmenquartier beim Belvedere im 4. Bezirk wohnte er zusammen mit 28 Kollegen, abends ging er gerne im Schweizerpark beim Südbahnhof spazieren. Dort lernte er seine erste Frau kennen, sie markierte einen Umweg: "Wenn man als G’scherter in die Großstadt kommt, dann ist man halt blind und blöd", sagt er heute. Sie war Friseurin und hat in der Hörlgasse im 9. Bezirk gearbeitet, jeden Abend ging er zu Fuß aus dem Vierten zu ihr und holte sie ab. Die Hochzeit fand in der Steiermark statt, wohin sie dann auch mit dem 1960 geborenen Sohn gezogen sind. Aber bei seinem Vater wollten sie nicht bleiben, und auch danach bei ihrer Mutter in Wien waren sie nicht glücklich.
Sie flüchteten jeden Abend ins Kino, schauten sich um 20 Uhr die erste Vorstellung an und die Spätvorstellung im Schikanederkino. "Und beim Kreisverkehr am Südtirolerplatz war das Wiedner Zentralkino!", wohin sie auch oft gingen. All die Filme retteten ihre Beziehung nicht. Herbert packte die Koffer und reichte die Scheidung ein. Heiraten wollte er danach nie wieder.
Mit acht eingeschult
Da wusste er freilich noch nichts von seiner Eleonore, die im August 1939 in Simmering geboren wurde, "am Kanal vorne in der Hasenleitengasse 6 in einer Holzbaracke". Ihre Geburt hat das Dutzend Kinder der Familie Jarosch voll gemacht, nach ihr sollten noch drei weitere folgen. Als sie fünf Jahre alt war, ist die Familie in den 2. Bezirk in die Ferdinandstraße gezogen, in eine große Altbauwohung an der Ecke Czerninplatz. Das Haus wurde "ausgebombt", wie sie sagt, eine Bombe kam ihrer Erinnerung nach aus Richtung der Franzensbrücke. Die russischen Besatzer wiesen ihnen eine Wohnung im selben Haus zu, die einem Herrn Stemberger gehörte, einem Juden, der vor den Nazis nach Amerika fliehen musste.
Der Donaukanal gleich daneben bedeutete "Ferien" für sie und Ablenkung vom Krieg. "Wir waren Straßenkinder und sind überall hingegangen." An der Ecke Hollandstraße und Sperlgasse beim Karmelitermarkt hätte sie schließlich eingeschult werden sollen, wurde aber gegen Ende des Krieges hin nach Vorderstoder in Oberösterreich evakuiert. Dort war für die "g’scherte Wienerin" jedoch kein Platz in der Schule.
Beim zweiten Versuch im Jahr darauf wurde sie krank und konnte wieder nicht eingeschult werden, weil sie drei Monate lang in Kirchschlag zur Erholung war. Beim dritten Versuch war sie bereits acht Jahre alt und saß als weitaus Größte "in der Eselsbank" in der ersten Klasse.
Am Moped nach Graz
Beim Haas auf der Roßauer Lände, wo man auch "das Backpulver" herstellte, begann sie jeweils vor Ostern und Weihnachten "bei den Pralinen" zu arbeiten, befüllte sie händisch mit Likör, pickte sie mit Schokoladestanizeln zu und wickelte sie in Staniolpapier, fünf Saisonen lang für je zweieinhalb Monate. Verdient hat sie 165 Schilling im Monat für damals noch 48 Wochenstunden, "das war gar nichts". Mit 17 Jahren fing sie in der Lindengasse im 7. Bezirk in einer Zippverschlussfabrik zu arbeiten an, die jedoch zusperren musste, "als im 56er Jahr der Nylonverschluss aufkam".
Das Lager ihrer Firma blieb voll mit solchen aus Stoff und Metall. 1960 wechselte sie zur Firma Schicht in der Wiener Hermannstraße, wo die bekannte Hirschseife hergestellt wurde, im selben Jahr zog die Familie mit fünf im Haushalt verbliebenen Kindern in die Stromstraße, "dort, wo das Viadukt über die Bahn drüber geht". Die Wohnung hatte ein Vorzimmer, zwei Zimmer und zwei Kabinette, von denen Eleonore eines bewohnte.
"Dort hatte ich genug Platz!", erzählt sie. "Weil meine jüngere Schwester gerade geheiratet gehabt hat und ausgezogen ist. So konnte ich mein Zimmer teilen."
"Mit wem?"
"Mit der Schwester vom Herbert!", lacht sie. "Die war ja damals schwanger von meinem Bruder."
So lernten sie sich also kennen: "Es war Sommer 1962, und meine Mutter war aus der Steiermark hereingekommen nach Wien", erinnert sich Herbert an den Tag, als die Hochzeit der Geschwister hätte stattfinden sollen. "Und die Eleonore ist von der Arbeit nach Hause gekommen und hat das Kleid getragen, das sie sich für die Hochzeit hat schneidern lassen. Sie hat gut ausgeschaut!" Aber die Hochzeit fand nicht statt, weil die Schwester unerwartet ins Krankenhaus musste.
Bei einem Bier unter Männern fragte Herbert also ihren Bruder, wie es denn um seine Schwester bestellt wäre, und der sagte: "Die kannst du dir einteilen, weil die ist eh alleine." Und Herberts Mutter meinte beim Abschied zu Eleonore: "Fahren S’ doch einmal mit ihm in die Steiermark!"
Er hatte ein Lohner Moped, auf dem sie noch im Spätsommer über den Wechsel - "Ich wär’ fast nicht drüber gekommen mit ihr hinten drauf!" - bis hinunter nach Graz gefahren sind. "Hätte die Mama das nicht angeschoben, wären wir nicht zusammengekommen!", lacht er. Allerdings widersetzte sich Herbert anfangs der mütterlichen Anschubhilfe, denn er war ja ein gebranntes Kind. Zwar ging er wieder viel ins Kino mit Eleonore (z.B. "Die Zehn Gebote" von Cecil B. DeMille aus dem Jahre 1956), aber Gas gab er nicht, und so dachte sie schon: Da geht nichts weiter! Darüber lacht er auch heute noch, denn: "Ich bin ja nicht ins Kino gegangen zum Herumschmusen, ich wollte den Film sehen!", sagt er augenzwinkernd. "Ich aber war schon 24 und wollte endlich heiraten!", sagt sie bestimmt.
100 Schilling zur Heirat
Die Hochzeit fand am 6. Juli 1963 um 12 Uhr am Brigittaplatz in Wien-Brigittenau statt, standesamtlich (zum zweiten Mal) und kirchlich (zum ersten Mal). "Um 15 Uhr sind wir in die Stromstraße zu ihrer Mama gefahren", erinnert sich Herbert, "wo wir 100 Schilling und ein Schnitzerl gekriegt haben." Anschließend sind sie mit dem Zug nach Hartberg gefahren, wo er am nächsten Tag die Garage beim Haus der Mutter betoniert hat. Arbeit und der Wunsch, sich etwas zu schaffen, bestimmte ihr Leben.
Eleonore war damals bei der Kugelschreiberfabrik Tempo in der Neubaugasse gegenüber der Löwingerbühne angestellt, 1979 übersiedelte die Firma in die Ketzergasse im 23. Bezirk, und Eleonore blieb ihr 28 Jahre lang treu. Die Gewerkschaften hatten in diesen Jahren die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden gedrückt und den Urlaub auf sechs Wochen gedehnt.
1965 sind sie nach Mali Lošinj gefahren "und wir haben müssen mit dem Schiff hinüberfahren, da war so ein Unwetter, die Insel war schwarz, ohne Strom, mit einer Kerze habe wir unser Zimmer suchen müssen". Am nächsten Tag aber schien die Sonne, und sie haben zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen. "Es war herrlich!" Das Hotel Alpenhof der Gewerkschaft Bau und Holz in Kirchberg/Tirol wurde ihr regelmäßiges Sommerdomizil, auch, "weil man dort um zehn Euro weniger pro Nacht gezahlt hat". Einmal waren sie in Benidorm in Spanien, "da ist sie alleine nach Sevilla gefahren mit dem Bus", erzählt er, und wieder war es: "Herrlich!" Sie besuchte einen Garten "mit solchen Mugeln Kaktus. Und ein Buffet gab es wie bei den oberen Zweitausend!"
Ihre erste gemeinsame Wohnung bezogen sie in der Embelgasse im 5. Bezirk, ein Tischler machte ihnen die Möbel, im Gegenzug musste er bei ihm Maurerarbeiten erledigen. Dort kauften sie - es waren die Jahre des Aufbruchs - ihren ersten SW-Fernseher von Metz und für die Weltmeisterschaft 1974 einen ersten Farbfernseher von Philips.
Herbert wechselte zur Firma Millik und Neffe, und die Frau Millik sagte über ihn: "Wenn wir den Herrn Schister nicht hätten!" Dort war er keine Nummer, dort war er wer. Er hat viel beim alten Fürnkranz in dessen Villen in Grinzing und in Reichenau gearbeitet, "der hat nur den Schister reinlassen", erzählt er stolz. Ins Ferienhaus Blick Wien konnte er seine Eleonore sogar einmal mitnehmen, er hat gemauert, und sie ist eine Woche lang im Dirndl wandern gegangen.
Wohnung auf Kredit
Als sie aus dem 5. Bezirk wegziehen wollten, kannten Freunde jemanden von der Sozialbau, und der wusste von zwei freien Wohnungen ganz oben in einem neustöckigen Gebäude nahe der Quellenstraße im 10. Bezirk. Sie entschieden sich für die kleinere: ein Zimmer, ein Vorzimmer, ein Bad, ein WC, eine Küche, ein Balkon. "Wir haben ja kein Geld gehabt!", lachen sie, schon das Auto hatte Herbert auf Schulden gekauft, es war ein Sunbeam Alpine. Die Zentralsparkasse gab ihm einen Kredit, und die AK einen weiteren über 10.000 Schilling. Er hat sogar die Briefmarkensammlung verkauft - "Erstauflagen aus der Schweiz und aus Liechtenstein, aber wissen S’, wenn Sie verkaufen müssen, kriegen S’ dafür auch nichts!" -, um die 80.000 Schilling Kaufpreis zusammenzukriegen.
Den Balkon freilich hat er gleich zur Loggia verbaut, denn: "Um halb drei kommt die Sonne und heizt da herein. Und um viertel zehn geht sie im Sommer über dem Wilhelminenberg unter." Die Aussicht ist immer gleich geblieben, bis auf das eine Hochhaus, das sie ihnen auf die Tarbuk-Gründe gestellt haben. "Und der Hauptbahnhof sieht natürlich anders aus."
Vor 28 Jahren, mit 55, konnte Eleonore in Pension gehen, Herbert ging mit 57: "So lange habe ich gearbeitet, bis beide Schultern kaputt waren und operiert haben werden müssen." Heute kegelt sich die Schulter oft aus, dann weiß er nicht recht, wie er sich bewegen soll, damit sie wieder reinspringt. "Das wird im Alter immer wieder passieren", hat man ihm gesagt, "weil die Bänder so stark überdehnt sind." Wenn heute einer sagt, er kriegt einen Pensionsschock, dann muss er lachen: "Vielleicht, wenn er eine schöne Arbeit gehabt hat. Aber am Bau ist es ja nicht schön! Du musst bei jedem Wetter raus."
Er war nie kräftig, er war klein, und trotzdem musste er ganze LKW samt Anhänger voll mit 50-Kilo-Zementsackln, die noch warm waren, abladen, ohne Kran. Den Mörtel rührten sie in der Mischmaschine an. Beton kriegten sie oft nur bei Firmen, die nach 18 Uhr am Abend sieben Kubikmeter abluden, und die mussten verarbeitet werden, bevor sie hart wurden. Der Professor Landsiedl schickte ihn schließlich in Rente: "Das können Sie nimmer tragen."
Im Regal in der kleinen Wohnung stehen Schallplatten vom Kenny Rogers, vom Telly Savalas oder vom Johnny Cash. "Wir haben eine Freigarage hier im Haus", erzählen sie, "die Wohnung ist warm, wir zahlen wenig Betriebskosten. Wir wollten nirgends anders mehr hin." Sie kauften sich einen Wandschrank mit ausklappbaren Betten - "Was brauchen wir mehr? Wenn unten jemand läutet, machen wir das Bett zu, und in zwei Minuten ist das ein Wohnzimmer."
Sie schläft links, er rechts. "Verliebt sind wir immer noch. Wir drucken uns am Abend und wir drucken uns in der Früh. Wir sind wie siamesische Zwillinge. Wir sind respektvoll. Die Chemie stimmt." Mittlerweile haben sie längst ein gemeinsames Konto ("Wofür zwei Kontoführungsgebühren zahlen?"), und gestern hat Herbert sogar gebügelt. "Sie geht einkaufen und kocht, dann tu ich halt das andere", sagt er. Differenzen haben sie praktisch nie, und wenn, dann nur "wegen anderer". Er hatte eine mit der Gewerkschaft, es ging um 40 Euro. Nach 65 Jahren Mitgliedschaft trat er aus.
Ein Glas Champagner
Am liebsten sind sie zu zweit. Im Sommer haben sie ihre Kabane am Gänsehäufel. Am Wochenende fahren sie gerne zum Heurigen Krug in Gumpoldskirchen. Und am Vormittag sitzen sie gerne beim Prokes am Viktor-Adler-Markt auf eine Gulaschsuppe mit Bier (er) und ein Weinderl (sie).
Letzten Februar waren sie in der Ramsau beim Langlaufen, und viel früher, vor zwanzig, vielleicht vor dreißig Jahren, kamen sie auf dem Rückweg aus Tirol am Wolfgangsee vorbei. Dort wurden sie auf die Pension Linortner der Familie Kritzinger gleich hinter deren Seebad aufmerksam, und dort werden sie heuer ihren 60. Hochzeitstag feiern. Über den Pötschenpass und Bad Aussee und einen kleinen Umweg zu einem Fischrestaurant am Toplitzsee werden sie dorthin fahren. Zur Feier des Tages werden sie im Hotel Peter mit einem Glas Champagner auf 60 Jahre gemeinsames Glück anstoßen, und dann: "Vor uns der See und sonst nichts. Und im Apartment wir zwei, und sonst niemand."
Manfred Rebhandl, geboren 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.