Zum Hauptinhalt springen

Was will eigentlich Viktor Orbán?

Von Silviu Mihai

Politik

Hinter der widersprüchlichen Taktik der letzten Tage steckt kaltes politisches Kalkül. Intern nutzt ihm das Flüchtlingsthema, doch die nächsten Wahlen finden erst 2018 statt. Daher das geringe Interesse an einer schnellen Lösung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Budapest. Mal fahren vom Ostbahnhof die Züge in Richtung Westen, mal wird der ganze Verkehr bis auf weiteres eingestellt. Mal dürfen die Flüchtlinge weiterreisen, mal sperrt die Polizei alle Eingänge ab. Mal gibt die ungarische Regierung Deutschland und der "linken" EU die Schuld für die Krise und möchte selber gar keine Asylsuchenden aufnehmen, mal verschärft sie die Gesetze so, dass alle Angereisten dauerhaft inhaftiert werden können. Manchmal lügen die Behörden den Menschen ins Gesicht, wie am vergangenen Donnerstag, als die Züge zur österreichischen Grenze umgeleitet, und die Flüchtlinge mit gültigen Fahrkarten nach Wien oder München aus den Wagen gerissen und in die Lager abtransportiert wurden. Der Wirrwarr, die widersprüchliche, unverständliche oder unehrliche Kommunikation machen die ohnehin prekären Bedingungen erst recht unerträglich und skandalös.

Was will Viktor Orbán eigentlich erreichen? Sind die chaotischen Zustände der letzten Tage das Ergebnis der Inkompetenz oder der schieren Überforderung? Wenig spricht dafür. Ungarn verfügt – anders als etwa die Balkanländer – über einen Verwaltungsapparat, der grundsätzlich in der Lage ist, komplexe Aufgaben zu bewältigen, die Anweisungen der Politik befriedigend umzusetzen und Krisensituationen in Griff zu bekommen. Entsprechend groß – und Meilen vom Balkan entfernt – ist das Vertrauen der Ungarn in ihren Staat. Die Beamtengehälter machen niemanden neidisch, aber sie sind auch nicht lächerlich. Korruption ist verbreitet, aber nicht systematisch, nicht das Bindeglied der Gesellschaft. Das Land hat bereits Erfahrung mit massiver Einwanderung, in den neunziger Jahren kamen mehr als 100.000 Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im ehemaligen Jugoslawien über die ungarische Grenze.

Zwar hat die heutige rechtspopulistische Regierung seit 2010 ein linientreues Klientelsystem ausgebaut, in dem fast alle Staatsbediensteten um ihre Stellen fürchten müssen und in dem Eigeninitiativen ungern gesehen sind. Wenn jeder auf Befehle von oben wartet, kann das Chaos leicht entstehen, weil sich niemand zuständig fühlt. Doch das allein erklärt weder die durchaus kohärente Rhetorik der Regierungspartei Fidesz, noch die Lügen oder die völlig unterlassene Hilfeleistung seitens des Staates. Anfang der Woche erklärte Minister János Lázár, der Chef des Premieramts die "linke" Migrationspolitik der EU für "Bankrott". "Europa und auch Deutschland brauchen gar keine Einwanderer", so Lázár. Antal Rogán, Fraktionsvorsitzender der Fidesz legte in einem Zeitungsinterview nach: "Wir müssen uns fragen, ob wir wollen, dass unsere Enkel im Vereinigten Kalifat Europas leben." Seit Parteichef Orbán bekräftigte kurz darauf, es sei oberste Priorität, die christliche Identität des Kontinents zu schützen, eine Anmaßung, die angesichts der katastrophalen Versorgungslage in Budapest so heuchlerisch klang, dass selbst dem diplomatisch versierten, polnischen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk der Kragen platzte.

Vielmehr müsste davon ausgegangen werden, dass das chaotische Management der Situation größtenteils beabsichtigt ist. Das Thema "illegale Einwanderung" erwies sich für Orbán als Chance, seine wegen der schlechten Wirtschaftslage und der zahlreichen Korruptionsskandale sinkende Popularität wieder einmal zu steigern, indem er sich als Retter des Volks präsentiert. Die jüngsten Umfragen bestätigen die Effizienz dieser Taktik. Dumm nur, dass die nächsten Wahlen erst 2018 stattfinden. Ein Interesse an einer schnellen Lösung der Krise dürfte der Ministerpräsident also nicht haben: Je länger die "Invasion der Muslime" anhält, je angespannter und elender die Lage wird, desto besser. Das linke Oppositionslager ist nach wie vor zerstritten, die einzige Konkurrenz bleibt die rechtsradikale Jobbik, der aber die Regierungspartei nach und nach alle Themen wegnimmt – in einem Wettbewerb, der den gesellschaftlichen Konsensus immer nach rechts treibt. Intern muss die Fidesz also auf Ablenkung und Zuspitzung setzen, das ermöglicht übrigens auch die Konsolidierung des Regimes durch immer tiefere Einschnitte in die rechtsstaatlichen Grundprinzipien. Putin lässt grüßen.

Extern fährt Orbán weiter seinen Konfrontationskurs gegenüber der EU und profitiert dabei von den Widersprüchen und den Unklarheiten der europäischen Flüchtlingspolitik, die das Problem allzu lange unterschätzt, ja verdrängt und mit dem Dublin-Abkommen an die Peripherie weggeschoben hat. Gelingt es, Brüssel, Berlin oder Wien bloßzustellen, indem sich deren neuer, humanitärer und solidarischer Diskurs angesichts der hart zu bewältigenden Realität als oberflächlich erweist und der Lüge bezichtigt werden kann, so gilt dies für Fidesz als Erfolg. Gewissermaßen ist Orbán jene dunkle Stimme des europäischen Unbewussten, die sich freut, wenn der Wille unter der Last der moralischen Imperative scheitert. Doch diese Strategie ist selbst für die Machthaber in Budapest brandgefährlich, die Eskalation kann jederzeit nach hinten losgehen, das inszenierte Chaos kann jederzeit tatsächlich außer Kontrolle geraten. Jobbik wartet geduldig vor der Tür.