IHS-Direktor Martin Kocher über die Schwarzen Löcher seiner Wissenschaft, Österreichs Glück und die Tragik des Euro.
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Wien. Der Mensch, so heißt es bei Shakespeare, sei "ein leichtsinniges, flatterhaftes Wesen". Die Wirtschaftswissenschaften können ein Lied davon singen, weigert sich dieses Wesen doch, sich an die großen Theorien dieser Zunft zu halten. Der Mensch ist schon ein Homo oeconomicus, aber eben auch viel mehr.
Warum wir welche Entscheidungen treffen, das ist das Forschungsgebiet des Verhaltensökonomen Martin Kocher. Der 43-jährige Salzburger leitet seit September als Direktor das Institut für Höhere Studien (IHS). Kocher gilt als einer der angesehensten Wissenschafter auf seinem Gebiet.
"Wiener Zeitung": Das große wirtschaftspolitische Feindbild unserer Zeit ist der Neoliberalismus. Wo versteckt sich der in Österreich?Martin Kocher: Ich beantworte eine Frage nur ungern mit einer Gegenfrage, aber hier müssen wir erst klären, was unter "Neoliberalismus" zu verstehen ist. Reden wir von Gewinnmaximierung, von Geiz oder von Bevorteilung einzelner Gruppen?
Es geht um Neoliberalismus als Chiffre für alles, was falsch läuft: die Kluft zwischen Arm und Reich, eine Globalisierung, von der nur wenige profitieren, die Bevorzugung von Kapital zulasten von Arbeit. Hat diese Chiffre Substanz?
Nur bedingt. Tatsache ist, dass ein Großteil der Österreicher von der Globalisierung profitiert, und nur ein kleinerer Teil, so zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung, benachteiligt ist. Dieser kleinere Teil ist ungenügend qualifiziert, die neue Konkurrenz am Arbeitsmarkt und die Auslagerung von Produktionen mit geringen Anforderungen führen hier zu sinkenden Einkommen; bei den Besserqualifizierten ist das umgekehrt.
Die größten Nutznießer sind allerdings nicht besser qualifizierte Arbeitnehmer, sondern Kapitaleigner.
Ja, das hängt mit dem freien Kapitalverkehr zusammen: Mit der Freiheit steigt auch die Möglichkeit, Gewinne zu maximieren. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass die Kapitaleigner die Lohnabhängigen für ihren Nachteil entschädigen. Das passiert zum Teil auch, aber vielleicht noch nicht in ausreichendem Maßstab, das funktioniert aber nicht national.
Worin liegt die größte Gefahr für den Wohlstand Österreichs und Europas: mehr Freiheit für Marktkräfte oder mehr Regulierung, um sozialen Ausgleich sicherzustellen?
Grundsätzlich braucht jeder Markt, damit er funktioniert, Regeln und Grenzen. Der österreichische wie europäische Mix ist da gar nicht so schlecht. Österreichs Steuerbelastung ist im Vergleich zu Deutschland ein bisschen zu hoch; diese kann man durchaus um 3 bis 4 Prozentpunkte gemessen am BIP reduzieren, ohne Leistungen einschränken zu müssen. Was die ständige Klage über die Regulierungswut angeht, muss man genau hinschauen: Natürlich gibt es Bereiche, wo man Ballast abwerfen kann, aber das ist leichter gesagt als getan. Die Umsetzung scheitert, weil sie mit hohen politischen Kosten verbunden ist.
Anderen Staaten gelingt es.
Ja. Vielleicht ist ein Grund, dass Österreich keine wirklich schwere Wirtschaftskrise durchleiden musste. Gottseidank, aber umgekehrt sind das in der Regel jene Phasen, wo sich alle darauf verständigen, dass größere Änderungen notwendig sind. In Österreich ist der Druck noch immer nicht groß genug.
Seit der Eurokrise 2009 ist die Eurozone zwischen Nord und Süd gespalten. Österreich pendelt: Rhetorisch haben sich die Kanzler Faymann und Kern wiederholt auf die Seite des Südens geschlagen, der eine lockere Budgetpolitik und staatliche Investitionen fordert. Bei Abstimmungen stehen wir verlässlich an der Seite des Nordens, der auf straffe Budgetdisziplin pocht. Wo sollte Österreich stehen?
Österreich hatte über fast 40 Jahre eine Bindung des Schilling an die D-Mark, von daher ist klar, dass wir eng mit Deutschland verbunden sind. Das liegt auf der Hand, weil auch ein Großteil unseres Außenhandels mit Deutschland erfolgt. Jede wirtschaftspolitische Koordination sollte deshalb in enger Abstimmung mit Deutschland erfolgen. Alles andere ist theoretisch zwar möglich, bringt aber große Probleme.
Das war eine pragmatische Antwort mit Bezug auf das Machbare, aber wird am deutschen Modell auch der Euro genesen?
Natürlich hat auch das deutsche Paradigma Widersprüche, aber grundsätzlich ist Deutschland sehr erfolgreich. Würden die Löhne kräftig steigen und so der Süden konkurrenzfähiger, würde das der Eurozone nur wenig helfen, weil ein großer Teil der deutschen Exporte in die USA und China geht. Es war schon bei Gründung der Eurozone vielen Ökonomen klar, dass das größte Problem nicht ein schwacher Euro sein wird, sondern die Schwierigkeiten, wenn sich die Produktivität in der Eurozone unterschiedlich entwickelt. Jetzt sehen wir die Dynamik dieser Fliehkräfte. Viele Politiker scheinen immer noch nicht verstanden zu haben, dass es im Euro nur zwei Möglichkeiten gibt: Deflation, also Senkung von Löhnen und Preisen in den Ländern mit Produktivitätsrückstand, oder Migration von den rückständigen in die florierenden Regionen.
Eine Transferunion wäre eine dritte Möglichkeit.
Stimmt, die wurde aber von Anfang an ausgeschlossen. Über lange Zeiträume wäre eine solche aber auch sinnlos, weil sie das Grundproblem unterschiedlicher Produktivitätsentwicklung nicht löst. Jede Währungsunion, die das nicht lösen konnte, ist früher oder später auseinandergefallen.
Wird der Euro die Krise überleben?
Der Euro als Währung sicherlich. Offen ist, ob die Eurozone in 10, 15, 20 Jahren noch die gleichen Mitglieder hat. Das ist eine politische Entscheidung der betroffenen Länder und ihrer Bürger, ob sie die schmerzhaften Konsequenzen der Anpassungen aushalten oder eben nicht.
Derzeit ist es so, dass die Europäische Zentralbank durch ihre Geldschwemme Druck von den Regierungen nimmt. Wie lange kann die EZB ihren Kurs noch weiterfahren?
So lange, bis keine neue Krise auftaucht. Die Politik handelt schwer fahrlässig, indem sie die gewonnene Zeit nicht nützt, eine gemeinsame Fiskalpolitik zu entwickeln. Entweder ist die EU aufgrund der Spaltung in Nord und Süd gelähmt, oder aber sie funktioniert nur im Krisenmodus, und im Moment ist die Krise eben nicht ausreichend akut.
Die Krise hat die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftswissenschaften unterminiert. Um mit Sokrates zu sprechen: Sind Sie sicher, dass Sie etwas wissen?
Das ist eine legitime Frage, zumal viele Ökonomen den Eindruck erwecken, als wüssten sie auf alles eine Antwort. Wir können vor allem die mikrowirtschaftlichen Zusammenhänge sehr gut erklären. Bei den ganz großen Fragen der Wirtschaftspolitik haben wir Probleme, Prognosen über längere Zeiträume verlässlich zu erstellen. Da müssen wir den Menschen reinen Wein einschenken und keine falschen Eindrücke erwecken.
Was sind die größten Schwarzen Löcher der modernen Wirtschaftswissenschaften?
Etwa die Frage, wann es besser ist, eine nachfrage- oder eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu machen. Wir verfügen hier über keine kontrollierten Experimente - und solche sind auch gar nicht möglich -, um festzustellen, wann investiert und wann Schulden abgebaut werden sollten. Es gibt zwar theoretische Modelle, und auch historische Beispiele helfen uns, aber definitive Antworten für konkrete Situationen können wir nicht anbieten.
Was soll die Eurozone tun: Schulden abbauen oder investieren?
Im Moment wären Investitionen - weniger in Deutschland und Österreich, sondern in den Problemländern - der richtige Ansatz, wenn nur nicht die Schulden bereits so hoch wären.
Wissen Sie, wo die Inflation hin verschwindet? Bei Beginn der Geldschwemme der EZB haben alle mit einer stark steigenden Entwertung gerechnet, nur sie kommt nicht.
Hier muss man mehrere Faktoren berücksichtigen. Die Inflation steigt, wenn die Nachfrage hoch ist. Wenn nicht, bleibt auch die Entwertung niedrig. Das ist derzeit in vielen Euro-Ländern der Fall. Sicher ist es auch so, dass manche Güter des täglichen Bedarfs schneller teurer werden, als es die Inflationsrate vermuten ließe, dafür werden seltener gekaufte Produkte billiger. Und auch niedrige Ölpreis spielt bei der Gesamtinflation eine große Rolle.
Diskutieren Medien und Politik die wirklich wichtigen Fragen oder lenken wir von diesen sogar ab?
Das ist eine schwierige Frage. Gerade in Österreich ist es nicht leicht, der Bevölkerung wirtschaftliche Zusammenhänge klarzumachen. Es fehlt oft an grundlegendem Wissen. Man muss die Diskussion zuerst versachlichen, dann erst kann man konfrontative Meinungen austauschen. Die Diskussion um Ceta, den EU-Freihandelsvertrag mit Kanada, war etwa nur schwer zu verstehen. Österreich erwirtschaftet einen Großteil seines Wohlstands über den Außenhandel, ein Abkommen mit Kanada, das klein, aber uns sehr ähnlich ist, sollte eigentlich nicht zu einer solch emotionalen Debatte führen. Dafür gibt es keinen rationalen Grund.
Aber das war doch genau der Zweck einer gezielten und professionellen Kampagnisierung.
Ja, und darüber müssen wir uns dringend Gedanken machen. Wie können wir widersprüchliche Standpunkte in eine Debatte einbringen, ohne dass wir diese selbst unmöglich machen: Darauf muss die Politik, müssen wir Experten, Antworten finden.