)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ein sonderbares Stück Erde liegt da am Rand des Städtchens Großräschen im deutschen Bundesland Brandenburg: Schon in den 1990er Jahren wurde die aus dem Zentrum hierher führende, nach dem Kommunisten Ernst Thälmann benannte Straße in Seestraße umbenannt. Dort, wo sie endet, erhebt sich ein elegantes schneeweißes Herrenhaus mit kleiner Auffahrt: "Seehotel" steht in Goldlettern darauf. Nicht weit entfernt ragt ein stählerner, an Drahtseilen abgespannter Finger über eine Senke: die Seebrücke. Das Einzige, was fehlt, ist der See.
Doch bis spätestens 2015 soll die "Lausitzer Riviera" fertig sein, dann wird die Senke bis fast vor die Hoteltüre mit Wasser gefüllt sein, das jetzt noch verheißungsvoll am Horizont glitzert. Nach dem Ende der Braunkohlegewinnung in der Lausitz war eine riesige Kraterlandschaft zurückgeblieben. Und hier entsteht nun die größte künstliche Seenlandschaft Europas.
Wer hier investiert, investiert in die Zukunft. Der Besitzer des Seehotels stammt aus Lüneburg, dem ehemaligen Westen. Der 70-jährige Gerold Schellstede hat das ehemalige Ledigenwohnheim der Bergbaugesellschaft schon vor einigen Jahren erworben und aus einer Ruine zu einem Viersternhotel umgebaut. Den langen Atem bis 2015 gewährt ihm wohl das eigene Möbelzentrum in der Stadt.
Zentrum des Bergbaus
Unmittelbar vor dem Hotel liegt die Mondlandschaft, wo die Bagger der Ilse Bergbau AG (IBA) vor ein paar Jahren noch rechtzeitig Halt gemacht hatten. 1871 war der Betrieb gegründet worden und galt bis 1945 als größtes Bergwerksunternehmen in Deutschland. Auch baute es die erste Förderbrücke der Welt. Hauptaktionär der Abbaufirma war eine jüdische Familie, die während der NS-Zeit enteignet wurde. Ihr herrschaftlicher Grundbesitz in Außig an der Elbe wird mit der Krupp-Villa Hügel in Essen verglichen. Mit einem Palais in Prag, das auch den Namen der Familie trägt, verbindet man in Tschechien hingegen nichts Gutes: Während der NS-Zeit war es Sitz der Gestapo gewesen.
Zu DDR-Zeiten befand sich in der Lausitz an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen das Zentrum der Braunkohleförderung. Immer weiter fraßen sich die Bagger voran, ganze Ortschaften mussten weichen. "Die Kohle hat es gegeben und wieder genommen", sagt der Bürgermeister von Großräschen, Thomas Zenker (SPD). 160.000 Einwohner hatte der Landkreis vor 18 Jahren, heute sind es 130.000; rund 110.000 Menschen waren im Bergbau beschäftigt, derzeit sind es noch höchstens 3000. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 21 Prozent.
Bis 1999 wurde im Revier Kohle gefördert, doch schon ein paar Jahre zuvor war die Idee der "Stadt am See" aufgekommen. "Sie hat neues Leben in die Region getragen", sagt der Bürgermeister. Seit vier Jahren läuft die Flutung. In drei Jahren soll sie mit 7000 Hektar schiffbarer Wasserfläche abgeschlossen und eine 14.000 Hektar große Seenlandschaft entstanden sein. Kanäle zwischen den künftigen Seen werden angelegt, bald wird man mit dem Sportboot unter einer Eisenbahnbrücke durchfahren können.
Ein Hafen ist geplant. Neben einigen Einfamilienhäusern liegt eine halbkreisförmige gestrüppreiche Senke: die Marina von Großräschen, der künftige Yachthafen des Großräschener Sees, der bis 2011 Ilsesee genannt wurde. Unweit davon, zwischen sandigen Kuppen und Kratern, steht ein älterer Herr mit weißem Rauschebart und Wanderstock. Auf seinem himmelblauen Käppchen ist "See" zu lesen, das Corporate Design für alle, die an der neuen Zukunft mitarbeiten. Günther Kaliske betätigt sich als Führer durch die Mondlandschaft, die nicht mehr Bergbaugebiet und noch nicht Freizeitlandschaft ist.
Aus seinem Rucksack holt er eine abgegriffene Broschüre mit dem Titel "Alles verloren - alles gewonnen" mit Schwarzweißbildern nicht mehr existierender Häuser. "Diese Ortschaft wurde in den 80er Jahren devastiert, so hieß das offiziell", erzählt er. Mehr als 4500 Menschen seien zwangsweise umgesiedelt worden. Da, wo einst der Ort Meuro stand, brausen heute die Rennwagen über den Lausitzring. 330 Millionen Tonnen Rohbraunkohle sind in all den Jahren hier abgebaut worden, wo nur noch spärlich von Gras und Buschwerk überwachsene Terrassen vom einstigen Treiben künden.
Nach jedem Regenguss, nach jedem Wind verändere sich diese Marswelt, sagt Günther Kaliske. Weite Krater hat der Mensch ausgehoben, kahle Rücken geschaffen, in die jedes Unwetter neue Abfließtäler kerbt.
Trittspuren von Hasen und Rehen lassen sich im Sand der dünenartigen Anhäufungen ausmachen. "Wir sind jetzt 20 Meter unter dem Wasser", sagt er. Da wird dann ein Boot fahren, das Bäume bis zu drei Meter unter Wasser absägt. Viel Vegetation ist aber ohnedies nicht anzutreffen. "Das ist Abraum über den Kohleflötzen, da wächst in den nächsten Jahren nichts", erzählt der Führer. Der Besucher stolpert über Abraum, den in einigen Monaten der immer größer werdende See überfluten wird, über weichen Sand, der bei jedem Schritt nachgibt, aus dem Holzkohlenstücke ragen, die in der Hand zerbröseln.

Von der Geländekante vor dem Seehotel ragt die Seebrücke in den leeren Raum. Sie ist aus altem Bergbaugerät entstanden, das 2003 hätte verschrottet werden sollen, auch so die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft dokumentierend.
Den Sedlitzer See, ein paar Kilometer weiter, gibt es schon. Er wird noch auf die doppelte Größe anwachsen, Floßfahrten werden schon jetzt angeboten. Unterirdische Dämme sichern das Ufer vor dem Abrutschen, ein Know-how, das international nachgefragt werde, erzählt ein Mitarbeiter des Großprojekts. Die Kanäle zwischen den Seen sollen unter anderem mit Leuchtröhren versehen werden. Ein schwimmender Steg von einem Kilometer Länge ist geplant.
Wiederkehr der Tiere
Asphaltierte Wege schlängeln sich an den Waldrändern um die Seen, viele Radfahrer haben das neue Ausflugsgebiet schon für sich entdeckt, bevor es noch ganz fertig gestellt ist. Auch die Tiere sind auf den Geheimtipp wiedererstandener Natur aufmerksam geworden: Wölfe kehren in die Gegend zurück, und Möwen von der Ostsee haben sich auf einer der als Inseln aus dem Wasser ragenden Erhebungen niedergelassen und eine neue Möwenart geschaffen: die Lausitzmöwe.
Noch ist das Wasser sauer aufgrund von Eisen und Sulfaten im Boden. Schiffe führen regelmäßig Kalk zur Neutralisation aus, aber es wird noch rund zehn Jahre dauern, bis sich die ersten Fische in der Lausitzer Seenlandschaft tummeln werden.
Die Landmarke Lausitzer Seenland ist ein rostiger Stahlturm zwischen Kiefern und Birken am Ufer des Sedlitzer Sees. Von der Spitze des Turms lässt sich weit ins Land sehen. Er steht neben einem Kanal mit frischem Schotter an den Ufern und einer jungfräulichen Schleuse und ist bereits das Wahrzeichen der Umgebung. Eine Million Euro hatte der künstlich gealterte Stahlbau gekostet. Geplant ist auch ein Lagunendorf, das ein wenig an Dubais Palmenblattanlage im Meer erinnert.
Schon länger gibt es den Senftenberger See, der inzwischen den Beinamen "Badewanne Sachsens" trägt. Moränen, Karpfen und Hechte leben darin. Hier entsteht eine Wohnsiedlung aus 20 schwimmenden Häusern, mit denen sich später auch über die Seen schippern lässt.
Eines davon betreiben Karin Mietke und ihr Mann. Sie sind ein Beispiel für innovatives Unternehmertum nach der Wende: Als sie arbeitslos geworden waren, verkauften sie Zeitschriften in der Region. Dann sattelten sie um auf Biervertrieb, später gründeten sie eine Heizungsfirma - stets überlegend, womit sich ein Geschäft machen ließe. Derzeit betreiben die beiden einen Reiterhof samt Pension am See und haben sich mit den schwimmenden Häusern vertraut gemacht. Auch an einem Campingplatz zeigen sie Interesse, denn Hotels und Gastronomiebetriebe fehlen noch in der Ferienregion der Zukunft.
Das stählerne Ungetüm
Wer in der Region das Kürzel "F60" hört, weiß, was gemeint ist: F60 heißt das stählerne Ungetüm, das quer in der Landschaft liegt, volkstümlicherweise auch "Der liegende Eiffelturm der Lausitz" genannt, eine weitere Attraktion des ehemaligen Bergbaus. Nach dessen Ende wurden die Abraumförderbrücken gesprengt, doch die 200-Einwohner-Gemeinde Lichterfeld machte sich erfolgreich für den Erhalt des letzten Unikums stark.
70.000 Besucher kommen inzwischen jährlich, um sich, begleitet von einer Licht-Klangin-stallation, auf den 400 Meter langen Weg im Bauch der ehemaligen Abraumförderbrücke zu machen. Zwischen 1988 und 1991 war sie gebaut worden und nur 15 Monate in Betrieb. 15 mal 15 Kilometer sollten über 35 Jahre hinaus abgebaut werden, pro Stunde wurde eine fußballfeldgroße Fläche mit Abraum zugeschüttet, mittels einer automatischen Eimerkette, die den Aushub 30 Meter hoch hievte, über den Kohleabbau fuhr und dahinter aus 30 Meter Höhe ablud.
Doch nach der Wende wollte niemand mehr Braunkohlenkoks kaufen. So wurde die 74 Meter hohe Förderbrücke, das größte bewegliche Arbeitsinstrument der Welt, zum Besuchermagneten: die Querverstrebungen leuchten abends weiß, wie die Saiten einer Harfe. Geheimnisvoll orange und grün werden die Arbeitskanzeln im Metallgestrüpp angestrahlt.
Ein stählerner Gigant, der auf einer weiten Fläche zwischen den Wäldern liegt, wie ein gefallener Förderturm, in dessen Inneren man sich auf Gitterrosten anhand brusthoher knallgelber Haltestangen bis an die wippende Spitze vorarbeitet, begleitet von kreischendem und hämmerndem Abbaulärm, der ebenso eine Verbindung zwischen Bergbau und Kunst darstellt, wie die ganze Landschaft eine zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Stefan May, geb. 1961 in Wien, Jurist, Journalist und Buchautor, lebt in Berlin und Wien.