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Webdesigner auf Rekordjagd

Von Kerstin Viering

Wissen
Die Netze hängen an bis zu 25 Meter langen Halteleinen an den Ufern. Foto: wikimedia

Caerostris darwini spannt riesige Netze über die Gewässer. | Eigenschaften stellen Kunstfasern weit in den Schatten. | Berlin. Allein die Vorstellung dürfte etlichen Menschen kalte Schauer über den Rücken jagen. Auf Madagaskar haben Wissenschafter eine ziemlich große neue Spinnenart namens Caerostris darwini entdeckt, die gigantische Netze quer über Bäche und Flüsse spannt.


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Manche dieser Gebilde haben eine Fläche von knapp drei Quadratmetern und sind mit bis zu 25 Meter langen Halteleinen an beiden Ufern befestigt. Noch erstaunlicher als die Größe ist aber das Material dieser Webkunstwerke, berichten Ingi Agnarsson von der University of Puerto Rico und seine Kollegen im Fachjournal "Plos One". Die Netze von Caerostris darwini bestehen aus dem strapazierfähigsten Biomaterial, das bisher überhaupt bekannt ist.

Spinnen haben in Materialforscher-Kreisen ohnehin schon viele Fans. Denn ihre Fäden sind um ein Vielfaches stabiler als ein ähnlich dicker Stahldraht und gleichzeitig elastischer als Gummi. Manche lassen sich problemlos um mehr als 40 Prozent auseinanderziehen, während ein herkömmliches Stahlseil schon bei einer Dehnung von etwa acht Prozent reißen würde. Mit solchen Eigenschaften stellen die Naturprodukte sämtliche Kunstfasern in den Schatten. Denn die sind entweder stabil oder elastisch, aber nicht beides zugleich. Seit Jahren versuchen Wissenschafter daher, Spinnseide als Vorbild für die Entwicklung neuer Fasern zu nutzen.

Ingi Agnarsson und seine Kollegen hatten allerdings ihre Zweifel, ob dabei bisher wirklich die talentiertesten Spinnkünstlerinnen im Mittelpunkt des Interesses standen. Bisher seien nur die Fäden von ein paar Dutzend Arten analysiert worden, schreiben die Forscher in ihrer Studie. Die Auswahl habe sich im Wesentlichen auf einige gut untersuchte Vertreter der tropischen Seidenspinnen und auf die Spezies in den Gärten der jeweiligen Wissenschafter beschränkt.

Dabei krabbeln weltweit mehr als 41.000 Spinnenarten durch die Lande, und die meisten davon können mehrere Typen von Fäden herstellen. Stabile Kletterseile oder Halterungen für das Netz brauchen schließlich andere Eigenschaften als klebrige Leinen für den Beutefang oder schützende Gespinste, die den Nachwuchs umhüllen. Man könnte "insgesamt mehr als 200.000 einzigartige Spinnseiden zu Verfügung haben, die ein erstaunliches Spektrum von Materialeigenschaften abdecken", schließen die Forscher.

Darwin zu Ehren

Wie aber soll man in dieser unübersichtlichen Fülle das am besten geeignete Material für den jeweiligen Zweck finden? Alle Produkte aus der tierischen Spinnfabrik systematisch durchzutesten, wäre viel zu aufwendig. Blind im Nebel zu stochern und auf einen Zufallstreffer zu hoffen aber dürfte kaum zum Erfolg führen. Kann vielleicht ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte und die Lebensweise der einzelnen Arten weiterhelfen? Diese Idee schien Ingi Agnarsson und seinen Kollegen vielversprechend. Ein besonders stabiles Material sollten zum Beispiel diejenigen Arten im Angebot haben, deren Netz besonders viel aushalten muss.

Einen solchen Kandidaten aber hatten die Biologen erst vor kurzem auf Madagaskar entdeckt und Mitte September 2010 wissenschaftlich beschrieben (The Journal of Arachnology Band 38, Seite 348). Man hat die Spinne nach dem großen Naturforscher Charles Darwin benannt, weil sie im Jahr 2009, genau 150 Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Die Entstehung der Arten", für die Wissenschaft entdeckt wurde.

Die ohne Beine etwa zwei Zentimeter großen Weibchen und die winzigen Männchen der Art Caerostris darwini haben sich für einen ziemlich anstrengenden Lebensstil entschieden. Einerseits ist es ja sehr praktisch, sein Netz über Wasserflächen aufzuspannen, weil dort reichlich Insekten umherschwirren. Andererseits ist die Konstruktion einer solchen Falle eine echte Herausforderung. Niemand weiß bisher, wie genau die Tiere ihre Befestigungsleinen von einem Ufer zum anderen bringen.

Klar ist aber, dass diese Fäden extrem stabil sein müssen. Obwohl sie an schwankenden Zweigen befestigt sind, müssen sie schließlich das riesige Netz inklusive der darin sitzenden Spinne halten. Das ganze Gebilde soll weder durchhängen, noch abreißen und ins Wasser fallen - egal, ob Wind und Regen daran zerren oder große Insekten in vollem Flug dagegen prallen.

Äußerst strapazierfähig

Für diese Herausforderungen aber sind die Fäden bestens geeignet, zeigen die Untersuchungen der Forscher. Die Seide der madagassischen Achtbeiner ist mehr als doppelt so stabil wie die aller anderen bisher untersuchten Spinnen und mehr als zehn Mal so strapazierfähig wie die Kunstfaser Kevlar.

Und das muss noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Die Biologen halten es durchaus für möglich, dass es in der Welt der tierischen Webdesigner noch besseres Material zu entdecken gibt.