Der "Inflation Reduction Act" weckt in der EU Ängste vor einem Industriesterben. Er sollte aber als Ansporn begriffen werden.
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Dass sich die Spitze der EU-Kommission nach Washington aufmachen muss, um die Kohlen aus dem Feuer zu holen, ist alles andere als ein Novum. Im Sommer 2018 reiste der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu Donald Trump, um den von seiner "America First"-Politik beseelten US-Präsidenten doch noch davon abzubringen, hohe Zölle auf europäische Autoimporte zu verhängen.
Fünf Jahre später ist nun EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in ähnlicher Mission unterwegs, wenn sie diesen Freitag mit Trumps Nachfolger Joe Biden zu Verhandlungen über den "Inflation Reduction Act" (IRA) zusammenkommt. Das riesige Subventionsprogramm, das in den kommenden Jahren 370 Milliarden Dollar in die US-Wirtschaft pumpt, um klimafreundliche Technologien zu fördern, hat in Europa enorme Ängste ausgelöst. Weil der "Inflation Reduction Act" mit seinen "Buy American"-Klauseln vor allem Firmen fördert, die in den USA produzieren, wird eine massive Abwanderung aus Europa in die USA befürchtet.
Die Rhetorik hat sich dabei in den vergangenen Wochen und Monaten regelrecht überschlagen. Die Rede ist von einer Diskriminierung von EU-Unternehmen; die deutsche Wirtschaft, die eben erst das Schreckgespenst der Gasmangellage abschütteln konnte, warnt mit drastischen Worten vor einer drohenden Deindustrialisierung.
Dass die Gemengenlage für Europa nicht einfach ist, ist unbestritten. Die EU kann mit ihrer stärker vom Ukraine-Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Wirtschaft einen Subventionswettlauf gegen die USA kaum gewinnen, und ein überbordendes Förderregime würde den EU-Binnenmarkt verzerren.
Was im Lamento über den IRA aber fast völlig untergeht: Die Europäer haben ihr Schicksal größtenteils selbst in der Hand. Dabei geht es nicht nur um weitere Ausnahmen für europäische Unternehmen, die von der Leyen wohl mit etwas Geschick heraus verhandeln kann, weil auch die USA angesichts der aktuellen Weltlage kaum Interesse an einem desaströsen Handelskrieg mit ihrem wichtigsten Partner haben. Entscheidend wird vor allem sein, dass die EU den "Inflation Reduction Act" als Ansporn und Chance begreift. Denn mit Bidens Investitionsprogramm entstehen in den USA nicht nur starke Green-Tech-Unternehmen, die für die EU sowohl als Kunden wie auch als Zulieferer interessant werden dürften. Er liefert auch jenen Weckruf, den Europa benötigt, um die Energiewende zu beschleunigen und seine Wirtschaft global wettbewerbsfähiger aufzustellen.