Wenn die Gesellschaft die Digitalisierung nicht gestaltet, wird sie Opfer werden, warnen Experten anlässlich der morgen, Donnerstag, startenden Alpbacher Technologiegespräche.
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Wien. Viele Computer-Nerds, massenhaft Speicherplatz, Geld wie Heu und Daten im Überfluss, mit denen Maschinen lernen, Muster zu erkennen und immer treffsicherer auf Situationen zu reagieren: Aus diesen Zutaten besteht die perfekte Umgebung zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI). Im Silicon Valley in den USA ist sie vorhanden.
Nun aber baut auch China seine KI-Kapazitäten rasant schnell aus. Patente in diesem Bereich haben sich zwischen 2010 und 2014 verdreifacht. 700 Millionen der heute zwei Milliarden Smartphone-Nutzer leben im Reich der Mitte. Sie nutzen digitale Services, soziale Medien und Sprachassistenten, zahlen am Handy - und erzeugen enorm viele Daten. Lokale Internet-Unternehmen wie Alibaba oder Tencent füttern sie in KI-Systeme, die daraus Statistiken erstellen, mit denen sie die Welt erfassen.
Technologie im Gespräch
Erst im Juli hat die Regierung in Peking eine Strategie verabschiedet, die China bis 2030 zur führenden KI-Macht machen soll, berichtet der britische "Economist". Die Autoren befürchten, dass etwaige Durchbrüche aber so etwas wie Staatseigentum bleiben. Das Gesetz schreibt nämlich vor, dass ausländische Unternehmen ihre in China erfassten Daten nicht für digitale Dienstleistungen in ihren eigenen Ländern nützen dürfen.
Wie Europa im Digitalzeitalter Wettbewerbsnachteile verhindern kann, erörtert Jörg Wuttke, der Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking, Freitagabend in einem Panel bei den Technologiegesprächen des Forum Alpbach (24. bis 26. August).
In einem Buch der Veranstalter, "Technologie im Gespräch", analysieren Experten auch die Besorgnis, dass die Menschen sich in zunehmendem Ausmaß nach Algorithmen richten. "Systeme der Massenüberwachung dienen nicht nur dem Terrorismus, sondern werden auch im Alltag eingesetzt", warnt der Komplexitätsforscher Dirk Helbing von der ETH Zürich. Stromzähler, Smart-TVs oder Internet-Links liefern Daten, die dazu verwendet würden, "um eine Art digitales Double von uns zu kreieren", anhand derer Maschinen lernen. Programme wie das chinesische "Citizen Score" oder die britische "Karma Police" würden daraus "einen Plan für die Welt entwerfen", in dem jedem eine Rolle zugewiesen wird. Erfüllt er die Rolle unzureichend, gibt es Minuspunkte, weniger Ressourcen, eine niedrigere Rangordnung.
Damit keine neo-feudalistische Gesellschaft entsteht, die auf Totalüberwachung und digitaler Planwirtschaft beruht, muss die Gesellschaft heute gegensteuern, so die Autoren. Der Aufsichtsratschef des Austrian Institute of Technology (AIT), Hannes Androsch, will das Buch als "einen Ton in einem Weckruf" verstanden wissen.
Helbing plädiert für ein Wirtschaftssystem, das ermächtigend wirkt und auf offener Innovation, gemeinsamem kreativem Schaffen, gemeinsamer Weiterentwicklung und offenen Daten aufbaut. "Das Prinzip Kontrolle würde durch bessere Kombination ersetzt", sagt er im Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Martin Kugler, der federführend bei der Erscheinung mitwirkt.
Die Technik würde dies möglich machen: Bei der in Entwicklung befindlichen Blockchain-Technologie werden nicht alle Daten zentral gespeichert, sondern dezentral und partizipativ erhoben und zum Einsatz gebracht. Sie sollen allen zur Verfügung stehen, mit dem Ziel der Zusammenarbeit. "Ein großer Vorteil ist das Vertrauen im System: Jede Transaktion wird vom Herausgeber und vom Empfänger mit seinem privaten Schlüssel signiert", so AIT-Blockchain-Forscher Ross King.
Innovationsbäume, kein Wald
Somit sind die Menschen am Zug: Sie müssen umdenken. "Wir sehen vor lauter Innovationsbäumen den Wald nicht mehr", umriss der Direktor des Wiener Museums für Angewandte Kunst, Christoph Thun-Hohenstein, bei der Buchpräsentation vorab seine Sicht. "Momentan stecken wir im größten Experiment der Menschheit, das noch dazu in unglaublicher Geschwindigkeit abläuft", so der Museumsdirektor, dessen Haus sich in der laufenden Vienna Biennale mit Digitalisierung und Robotik auseinandersetzt.
"Business as usual" könne man sich angesichts der digitalen "Totaltransformation" nicht mehr leisten. In den Wahlkämpfen in Österreich und Deutschland spiele die um sich greifende algorithmische Sicht auf den Menschen jedoch erstaunlicherweise keine Rolle. Es würden vor allem alte Konzepte verhandelt. Dabei gehe es heute vielmehr darum, Strategien zu entwickeln, um die Digitalisierung, mit ihren sich bietenden Chancen, für die Menschheit zu nutzen.