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Wegbereiter der empirischen Sozialforschung

Von Wolfgang Brezinka

Wissen

Heutzutage gilt die Soziologie auch in Österreich als Wissenschaft, die für das Verständnis moderner Gesellschaften unentbehrlich ist und an den Universitäten als Forschungs- und Studiengebiet vertreten sein muss. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fehlten dafür zunächst alle Voraussetzungen. Der Aufbau des Faches in Österreich vom Nullpunkt ist in erster | Linie Leopold Rosenmayr zu verdanken.


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Er hat 1954 mit finanzieller Unterstützung der New Yorker Rockefeller-Stiftung in Wien eine "Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle" als gemeinnützigen Verein gegründet. Begonnen wurde mit einer empirischen Untersuchung der Lebensformen von Wiener Familien. Parallel dazu hat Rosenmayr an der Wiener Universität die ersten Lehrveranstaltungen über empirische Soziologie eingeführt. 1955 erfolgte seine Habilitation zum Universitätsdozenten, 1963 die Ernennung zum Professor für Soziologie und Sozialphilosophie.

Selbständige Studienrichtung

In jahrelangem Ringen hat er wesentlich dazu beigetragen, dass 1966 eine selbständige soziologische Studienrichtung gesetzlich eingerichtet worden ist. Bis dahin waren soziologische Studien nur nebenbei im Rahmen eines Hauptfachstudiums der Philosophie oder der Staatswissenschaften möglich.

Wie armselig und schwierig die Arbeitsbedingungen am Anfang dieses Aufbauwerkes gewesen sind, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Es fehlte an ausgebildeten Forschern ebenso wie an Forschungsmitteln. Rosenmayr musste die Methoden der empirischen Sozialforschung, die er für sein Vorhaben brauchte, selbst erst nachträglich lernen.

Am 3. Februar 1925 in Wien geboren, hatte er nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ab 1946 an der Wiener Universität Philosophie mit dem Schwerpunkt Ideengeschichte der Antike und des frühen Christentums studiert. In seiner Dissertation hat er den Einfluss des Hellenismus auf die Entwicklung der kirchlichen Dogmatik untersucht. 1949 promoviert, konnte er seine religionshistorischen Studien dank eines Stipendiums der französischen Regierung in Paris fortsetzen.

Leitidee: Praxisrelevanz

Es zog ihn jedoch von der Ideengeschichte zu einem praxisnahen Berufsfeld. Er wollte die realen Lebensverhältnisse, Sorgen und Interessen seiner Zeitgenossen erforschen, um dieses Wissen für den gesellschaftlichen Wiederaufbau zu nutzen. So fand er zur empirischen Sozialforschung als "angewandter Soziologie", für die ihm "Praxisrelevanz" zur wichtigsten Leitidee wurde.

Die Berufswelt der Wiener Arbeiterschaft lernte er ab 1950 als Hilfsarbeiter in der Raffinerie Floridsdorf kennen. Bei der Einarbeitung in die soziologische Theorie und die Methoden der Feldforschung half ihm 1951/52 ein amerikanisches Stipendium an der Harvard-Universität, gefolgt von einem einjährigen Lehrauftrag an der Fordham-Universität in New York.

1953 nach Wien zurückgekehrt begann die selbständige Sozialforschung. Der ersten Familienstudie folgte eine große Untersuchung über Wohnverhältnisse, Wohnwünsche und Sozialbeziehungen, deren Ergebnisse 1956 unter dem Titel "...wohnen in Wien" veröffentlicht wurden. Sie entstand im Auftrag der Wiener Stadtplanung und stützte sich auf mehr als 4.000 Interviews in Wiener Haushalten. Es folgten Studien über die Rolle der Frau, außerhäuslich berufstätige Ehefrauen und Mütter, Geburtenrückgang, Freizeitgewohnheiten, Ehescheidungen und die Familienbeziehungen alter Menschen.

Interdisziplinäre Forschung

Von Anfang an waren Rosenmayrs Forschungen interdisziplinär angelegt. Er suchte und erreichte die enge Zusammenarbeit mit Statistikern, Bevölkerungswissenschaftlern, Ärzten, Psychologen und Sozialhistorikern. Es blieb nie bei einer rohen Sammlung von Daten, die bald veralten, sondern die erhobenen Zustände und Ereignisse wurden in ihrem geschichtlichen Entstehungsrahmen interpretiert und aus den persönlichen Lebenserfahrungen der befragten Menschen zu deuten versucht. In freundschaftlicher Verbindung mit dem Psychiater Hans Strotzka (1917-1994) wurden stets auch tiefenpsychologische Gesichtspunkte berücksichtigt, um soziale Situationen zu verstehen.

Ebenso wichtig wie dieser fachüberschreitende weite theoretische Horizont war Rosenmayr in praktisch-politischer Hinsicht die "große Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen". Er war lebenslang um Verständigung, Versöhnung und Zusammenarbeit bemüht, um nach der unseligen politischen Zerrissenheit der Ersten Republik "eine neue Form der österreichischen Identität zu finden".

Lebenslaufforschung

Orientiert an seinen drei Leitideen Praxisrelevanz, Interdisziplinarität und Koalitionsgesinnung hat Rosenmayr in rund 50 Jahren ein imponierendes Lebenswerk geschaffen. Es ist nicht in gelehrten Zirkeln und Bibliotheken versteckt geblieben, sondern hat weit in politische Pläne der Regierungen wie in den Alltag seiner Mitbürger hineingewirkt. Was mit Studien über Familienbeziehungen und Wohnverhältnisse begonnen hat, wurde in den sechziger Jahren mit Jugendstudien fortgesetzt und mündete mit zunehmendem eigenen Alter in die Altersforschung. 1980 gründete er in Wien das Ludwig-Boltzmann-Institut für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung, das er noch immer leitet.

So wurde Rosenmayr weit über Österreich hinaus einer der international angesehensten Experten für die menschlichen Lebensalter in sozialwissenschaftlicher Sicht. Ein frühes Zeugnis dafür war es, dass er zum maßgebenden deutschsprachigen "Handbuch der Empirischen Sozialforschung", das René König 1969 herausgegeben hat, die Kapitel über "Jugendsoziologie" und "Soziologie des Alters" beigesteuert hat.

Einige Titel seiner wichtigsten Bücher müssen hier genügen, um die Vielseitigkeit und Aktualität seiner Forschungen wenigstens anzudeuten: "Geschichte der Jugendforschung in Österreich 1914-1931" (1962), "Familienbeziehungen und Freizeitgewohnheiten jugendlicher Arbeiter" (1963), "Umwelt und Familie alter Menschen" (1965, zusammen mit Eva Köckeis), "Kulturelle Interessen von Jugendlichen" (1966, mit E. Köckeis und Henrik Kreutz), "Gefährdung und Resozialisierung Jugendlicher" (1968, mit Hans Strotzka und Herta Firnberg), "Rollenerwartungen der weiblichen Jugend" (1973, mit H. Kreutz), "Der alte Mensch in der Gesellschaft" (1978, mit Hilde Rosenmayr), "Politische Beteiligung und Wertwandel in Österreich" (1980), "Die späte Freiheit. Das Alter - ein Stück bewusst gelebten Lebens" (1983), "Die Kräfte des Alters" (1990), "Die Schnüre vom Himmel. Forschung und Theorie zum kulturellen Wandel" (1992), "Hoffnung Alter. Forschung, Theorie, Praxis" (2003, mit Franz Böhmer).

Im Alter hat sich Rosenmayr als Forscher besonders den Beziehungen zwischen den Generationen im Kulturvergleich und den Folgen des kulturellen Wandels unter dem Druck von Modernisierung und Globalisierung gewidmet. Das Material dafür hat er unter anderem in mühevollen Forschungsaufenthalten bei westafrikanischen Stämmen gesammelt. Als er vor zehn Jahren als Professor der Wiener Universität emeritiert wurde, hat er sich nicht zur Ruhe gesetzt, sondern mit bewundernswertem Eifer kraftvoll weitergearbeitet. Er ist seit 1978 ein besonders aktives Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und bereitet zur Zeit den internationalen Kongress vor, den diese im März zur Altersforschung veranstalten wird.

Neben dem Forscher ist aber anlässlich der Vollendung seines 80. Lebensjahres auch dem unermüdlichen Lehrer, Erwachsenenbildner und Publizisten zu danken, der in Wort und Schrift öffentlich und privat unzähligen Menschen geraten und geholfen hat.

Vorbild für die "neuen Alten"

Als er 1994 mit dem prominenten Preis der deutschen Schader-Stiftung "Gesellschaftswissenschaften im Praxisbezug" ausgezeichnet wurde, hieß es in der Laudatio: Professor Rosenmayr hat sich "in geradezu exemplarischer Weise langfristig und erfolgreich für den Transfer gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis eingesetzt". Er hat sein Fachwissen in vielen Vorträgen, Zeitungsartikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen auf anziehend klare und lebendige Weise weitergegeben. Er hat auch aufklärend zu umstrittenen Tagesfragen Stellung genommen und für Umdenken und Reformen geworben. Zum Glück für uns und ihn gehören diese wissenschaftlichen und sozialen Leistungen noch nicht ganz der Vergangenheit an. Er vollbringt sie auch jetzt noch lernfreudig, warmherzig und ermutigend - ein Vorbild für alle, die man nun die "neuen Alten" nennt.