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Wege aus der Wirtschaftskrise

Von Stephan Schulmeister

Reflexionen

Ein "New Deal" für unsere Zeit ist vonnöten: Die marktreligiöse Selbst-Entmündigung überwinden, die "Spielanordnung" ändern - und das Prosperitätsbündnis zwischen Realkapital und Arbeit erneuern.


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Die Sorgen unserer Eliten verdeutlichen ihre Orientierungslosigkeit: Die Inflation ist zu niedrig, Südeuropa schon von einer Deflation erfasst! Das hat die Politik durch massive Lohnsenkungen ja selbst verursacht. Die Arbeitslosigkeit erreicht den höchsten Stand seit den 1930er Jahren! Dies ist ja Folge der Sparpolitik und der so verursachten Rezession in der EU (die USA haben auf beides verzichtet). Gleichzeitig hat diese Politik auch die Staatsschuldenquote in die Höhe getrieben (in Großbritannien seit 2007 von 46 Prozent auf 93 Prozent des Bruttoinlandprodukts)!

Die Hauptursache

In den Köpfen der Eliten dominiert die gleiche Weltanschauung wie vor 80 Jahren: Wenn Menschen arbeitslos werden, dann sind Löhne und Arbeitslosengeld zu hoch, also runter damit. Wenn der Staat ein Defizit hat, lebt er über seine Verhältnisse, also muss er sparen.

Der Sozialstaat behindert den freien Markt und schädigt daher die Wirtschaft - nicht aber die manisch-depressiven Schwankungen der Finanzmärkte. Also bereitet der Aktienboom den nächsten Kurssturz vor.

Die Ausbreitung der neoliberalen Weltanschauung seit fast 50 Jahren hat die Wahrnehmung verändert: "Die Märkte" wurden zu einem Subjekt, dem sich die Politik und letztlich jeder anzupassen hat, die Verheißung der "Freiheit" in der neoliberalen Theorie wurde zu Zwang und Selbstentmündigung in der neoliberalen Praxis.

An der Sprache wird dies kenntlich: Welcher Journalist hätte vor 30 Jahren geschrieben "Die Märkte disziplinieren Griechenland mit hohen Zinsen" oder "Der DAX beendete den Tag in guter Stimmung"?

Sind die neoliberalen Therapien Teil der Krankheit (Paradox 1) und hat die Politik diese sie selbst entmündigende Weltanschauung übernommen (Paradox 2), so folgt: Die Politik, die gerade in schweren Krisen "Leadership" entfalten sollte, verweigert sich dieser Aufgabe (Paradox 3).

Der Schock durch die Lehman-Pleite (September 2008) und ihre Folgen setzte diese Paradoxien kurzfristig außer Kraft. Als die Aktienkurse im März 2009 wieder zu steigen begannen, wurden die Freudschen Abwehrmechanismen der Verleugnung und Verdrängung aktiviert. Stärker denn je werden seither Sparpolitik, Lohnkürzungen und Liberalisierung der Arbeitsmärkte verordnet, insbesondere den Ländern in Südeuropa. Die Folgen sind verheerend: Millionen Menschen wurden arbeitslos, ihrer Gesundheitsversorgung beraubt, Armut breitete sich aus, viele Menschen nahmen sich das Leben.

Schuldige Politiker

Gingen Politiker und Politikerinnen davon aus, dass sie gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können und sollen, müssten sie diese Entwicklung als Schande begreifen. Wenn aber gilt: Die "unsichtbare Hand" des Markts lenkt alles zum Besten, dann sind jene schuld, die sich der Hand widersetzen. Deshalb schauten die Staatenlenker bedauernd zu, wie ihre Rezepte Südeuropa in eine Depression schlittern ließen.

In der totalen Marktwirtschaft gibt es nur eine Option: Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit. Also müssen "wir" wieder den Zwölf-Stunden-Tag ermöglichen (was selbstverständlich die Arbeitslosigkeit erhöht, da die Unternehmen die Arbeitskräfte effizienter nutzen können), also muss Europa mit den Energiekosten nachziehen, wenn sie in den USA sinken (sonst heizt auch "unsere" Industrie die Erde von den USA aus auf, und nicht an EU-Standorten), und den Sozialstaat können wir uns in einem globalen Wettbewerb sowieso nicht mehr leisten (warum stehen dann die skandinavischen Länder am besten da in Europa?).

Würde man nicht "marktreli- giös", sondern konkret denken, wäre der Fundamentaldefekt des neoliberalen Modells leicht zu erkennen: Ein Verhalten, das dem Einzelnen zweckmäßig erscheint, bewirkt in Gesamtsystem das Gegenteil, sobald es zur Leitlinie (erklärt) wird. Wenn die "Schwäbische Hausfrau" spart, weil der Gatte arbeitslos wurde, stabilisiert sie die Finanzlage ihres Haushalts. Wenn alle sparen, schlittert das System in eine Depression. Wenn einzelne Unternehmen die Löhne senken, können sie (vielleicht) ihre Lage verbessern, wenn das Lohnniveau insgesamt sinkt, vertieft Deflation die Krise. Wenn jeder mit gleichem Einsatz seine Wettbewerbsstärke verbessert, wird keiner viel gewinnen, vielleicht aber alle verlieren, weil der "Gesamtkuchen" schrumpft.

Eingriffe der Politik

Dieser "Trugschluss der Verallgemeinerung" bildet ein Kernstück der Theorie von Keynes. Die zweite Fundamentalbotschaft lautet: Transaktionsverhalten und Preisbildung auf Finanzmärkten unterscheiden sich essenziell von jenen auf Gütermärkten. Finanzspekulation orientiert sich nicht an den langfristig "wahren" Werten, etwa von Aktien, sondern am Gewinn, der aus ihren kurzfristigen Bewegungen erzielt werden kann. Ein solches Verhalten destabilisiert die Rohstoffpreise, Wechselkurse, Zinssätze und Aktienkurse, die Unternehmen verlagern ihr Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen. Keynes schlug daher vor: Stabilisierung von Zinssätzen, Wechselkursen und Rohstoffpreisen durch die Politik, eine Transaktionssteuer zur Eindämmung der Aktienspekulation und generell die "Euthanasie der Rentiers".

Der Ökonom John Maynard Keynes, dessen Empfehlungen die Wirtschaftpolitik besserer Zeiten prägten.
© Bettman/Corbis

In den 1950er und 1960er Jahren folgte die Politik den Empfehlungen von Keynes, das Gewinnstreben konnte sich nur in der Realwirtschaft entfalten, "Wirtschaftswunder" fanden statt. Die politische Basis der "realkapitalistischen Spielanordnung" bildete das Bündnis zwischen den Interessen von Realkapital und Arbeit (gegen die Interessen des Finanzkapitals).

In der Wirtschaftswissenschaft wurde die Botschaft von Keynes über die inhärente Instabilität "freier" Finanzmärkte vollständig ignoriert. So konnten neoliberale "master minds" wie Milton Friedman auf "wissenschaftliche" Weise schon in den 1950er Jahren für eine Befreiung der Finanzmärkte kämpfen, dieses Programm war Teil der Restaurationsarbeiten am alten Weltbild der Harmonie eines marktgesteuerten Gesamtsystems. Auf dogmatisch-spitzfindige Weise leiteten die "Markttheologen" ab: Vollbeschäftigungspolitik, Regulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Sozialpartnerschaft (besonders die Gewerkschaftsseite) und Sozialstaatlichkeit sind schädlich für "uns".

Ende der 1960er Jahren stießen diese Botschaften auf immer offenere Ohren der Unternehmer(vertreter). Denn die anhaltende Vollbeschäftigung hatte die Gewerkschaften immer "unverschämter" gemacht und ein zunehmend "linker" Zeitgeist blies die Sozialdemokratie an die Macht. Dann kam auch noch die Umweltbewegung - so konnte es nicht weiter gehen.

Die Umsetzung des neoliberalen Programms markiert die Etappen auf dem langen Weg in die Krise. Er begann 1971: Aufgabe der festen Wechselkurse, Dollarentwertung, Ölpreisschocks, Inflationsanstieg, Hochzinspolitik, Schaffung der Finanzderivate, Maastricht-Sparprogramm, "Lassen wir unser Geld arbeiten!", Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, Preisboom von Immobilien, Aktien und Rohstoffen, danach ihre Entwertung 2007/2008, Spekulation gegen Eurostaaten, radikale Austeritätspolitik in den Krisenländern, Zerstörung des Sozialstaats und Entmachtung der Gewerkschaften.

Fazit: Die neoliberale "Navigationskarte" stellt die Hauptursache der großen (System-)Krise dar. Das können die Eliten nicht wahrnehmen (Ärzte, die Krankheiten verursachen, werden das als letzte begreifen). Allein schon aus moralischen Gründen: Dann wären ja viele Universitätsprofessoren, Journalisten, Politiker als Teil der "Herde" schuld am Elend und auch am Tod vieler Menschen. Zwar lässt sich der Beitrag Einzelner nicht ermitteln, doch der Gedanke an eine Kollektivschuld ist unangenehm genug, um ihn erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ein gründliches Lernen aus der Krise findet daher nicht statt.

Voraussetzung dafür ist ein weiterer "Krisenschub": Eine neuerliche Entwertung der Aktien und damit des Pensionskapitals und der Finanzinvestitionen von Unternehmen und Haushalten wird deren Nachfrage senken, die EU-Staaten werden nicht gegensteuern, die Krise vertieft sich. Wenn die Zahl der Arbeitslosen in der EU gegen 40 Millionen steigt, wenn noch mehr Junge deklassiert werden und wenn sich (daher) der Vormarsch rechtspopulistischer Parteien beschleunigt, besteht eine Chance, dass auch die Eliten ihre Weltanschauung in Frage stellen.

Neue Navigationskarte

Für einen Kurswechsel braucht es dann das Konzept einer neuen Navigationskarte. Ihre Leitlinien orientieren sich am "New Deal" von Roosevelt in den 1930er Jahren: Bekämpfung aller Formen der "Finanzalchemie" und damit Konzentration des Gewinnstrebens auf die Realwirtschaft, (darüber hinausgehende) Stärkung der gemeinsamen Interessen von Unternehmern und Arbeitnehmern, Fokussierung auf die bedrückendsten Probleme wie (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Existenzgefährdung vieler Unternehmen, steigende Staatsverschuldung, Armut und soziale Ungleichheit.

Politik wird somit als Vernetzung von (Groß-)Projekten konzipiert, welche die konkrete und schrittweise Überwindung gesellschaftlicher (Teil-)Krisen zum Ziel hat (statt zum x-ten Mal "Strukturreformen" einzufordern). Ein moderner New Deal für Europa müsste zusätzlich die Verbesserung der Umwelt und die Stärkung des europäischen Zusammenhalts zu Hauptzielen erklären. Die wichtigste Voraussetzung für die Verlagerung des Gewinnstrebens zur Realwirtschaft ist folgende: Die zwischen der Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden "Fundamentalpreise" - im Raum der Wechselkurs, in der Zeit der Zinssatz - müssen durch das System Politik stabilisiert werden. Ähnliches gilt für die Preise erschöpfbarer und umweltschädigender Ressourcen, insbesondere von Erdöl.

Zukunftsprojekte

Projekt 1: Umwandlung des Euro-Rettungsfonds (ESM) in einen "Europäischen Währungsfonds" (EWF). Dieser stellt den Euroländern Finanzmittel durch Ausgabe von Eurobonds zur Verfügung. EZB und EWF legen gemeinsam deren Zinsniveau fest (derzeit maximal zwei Prozent). Die Kreditvergabe an die einzelnen Euroländer wird an - nicht notwendig restriktive - Bedingungen geknüpft. Die Bonität des EWF wird von allen Euro-Ländern garantiert, er hat überdies die "Rückendeckung" der EZB. Selbst niedrig verzinste Eurobonds sind daher für Anleger attraktiv. "Die Märkte" können Euro-Staaten nicht mehr gegeneinander ausspielen.

Projekt 2: Die Wechselkurse zwischen den vier wichtigsten Währungen (Dollar, Euro, Renminbi, Yen) werden durch Vereinbarung zwischen den vier Notenbanken innerhalb enger Bandbreiten stabilisiert. Der Devisenmarkt ist dezentral organisiert, gegen deklarierte Wechselkursziele der Notenbanken zu spekulieren ist sinnlos.

Projekt 3: Dämpfung der schnellen Spekulation durch Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer.

Projekt 4: Übergang vom Fließhandel zu Auktionen auf den Aktienbörsen. Deren Zweck besteht in der Finanzierung von Unternehmen und in ihrer laufenden Bewertung entsprechend der "Fundamentalfaktoren". Für diesen Zweck genügen ein bis drei elektronische Auktionen pro Tag: Für jede Aktie wird aufgrund der Kauf- und Verkaufsorders der Gleichgewichtskurs ermittelt (wie die Eröffnungskurse). Derzeit stammt der überwältigende Teil der Transaktionen von computergesteuerten Spekulationssystemen, welche die Fundamentalfaktoren völlig ignorieren. Diese destabilisierende Spekulation verschwindet mit dem Fließhandel. Dieses Modell würde auch Anleihekurse und Rohstoffpreise stabilisieren.

Projekt 5: Festlegung der langfristigen Entwicklung des Erdölpreises durch Einführung einer EU-weiten Steuer, welche die Differenz zum jeweiligen Weltmarktpreis abschöpft. Laut ökonomischer Theorie müsste nämlich der Preis von Erdöl stetig stärker steigen als das Preisniveau insgesamt. Erstens, weil Erdöl eine erschöpfbare Ressource ist, und zweitens, weil Erdöl der Hauptverursacher des Klimawandels ist. Besteht hinsichtlich der jährlichen Verteuerung Sicherheit, wäre ein Investitionsboom in höhere Energieeffizienz die Folge.

Projekt 6: Gründung einer europäischen Ratingagentur als einer öffentlichen, unabhängigen Institution (wie ein Rechnungshof). Denn die Leistungen einer solchen Agentur sind öffentliche Güter, ihre Erstellung durch private Unternehmen muss zu Interessenkonflikten führen.

Zur Stärkung der Realwirtschaft werden besonders solche Projekte forciert, die im neoliberalen Zeitalter vernachlässigt, früher oder später aber in jedem Fall bewältigt werden müssen. Das Aufgabenfeld reicht von den Umweltbedingungen, der Infrastruktur, dem Bildungswesen, der Integration von (jungen) Menschen mit Migrationshintergrund, den Entfaltungschancen der Jungen, insbesondere bei Arbeit und Wohnen, bis zur Armutsbekämpfung (entsprechende Projekte habe ich in meinem Buch "Mitten in der großen Krise - ein ‚New Deal‘ für Europa" skizziert).

Zwei Projekte könnten die Folgen der noch einige Jahre dauernden Krise markant mildern und in Österreich (und anderswo) autonom durchgeführt werden.

Erstens, die thermische Sanierung des Gebäudebestands in Österreich. Dadurch würden über einen Zeitraum von 10 Jahren "flächendeckend" etwa 100.000 Arbeitsplätze pro Jahr geschaffen, die Umweltbedingungen verbessert und die Energiekosten deutlich gesenkt werden.

Umverteilung

Zweitens, das Großprojekt einer Umverteilung des Arbeitsstundenvolumens von den Älteren zu den Jungen. Dazu bedarf es einer Kampagne, welche die Vorteile dieser Strategie verdeutlicht: Ältere Arbeitnehmer würden je Arbeitsstunde deutlich mehr verdienen, wenn sie etwa statt 40 nur 30 Stunden arbeiten, das "frei werdende" Stundenvolumen ermöglicht es, mehr Junge in ("normale") Beschäftigung zu bringen, Unternehmer profitieren von deren höherer "Energie" und besserer Kenntnis neuer Technologien, der Staat erspart sich die Bezahlung von Arbeitslosengeld.

Allerdings: Ohne Mobilisierung, Ausweitung der AMS-Aktivitäten auf flächendeckende "Vermittlung" von Arbeitsstunden, und Koordination zwischen den Sozialpartnern, (älteren) "Überstundenleistern" und jungen Arbeitslosen bzw. prekär Beschäftigten lässt sich ein solches Großprojekt nicht umsetzen. Das schafft "der Markt" nicht. Den nächsten Krisenschub aber schon.

Stephan Schulmeister arbeitet als Wirtschaftsforscher in Wien. Seine Publikationen finden sich im Internet unter http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at

Dieser Artikel ist eine Weiterführung
von Stephan Schulmeisters erstem Beitrag, "Prosperität und Depression", im "extra" vom 22./23. Februar 2014.