Hat die aggressive politische Kultur der USA mitgeholfen, Jared Lee Loughner zu seiner verrückten Schießorgie zu motivieren? Und warum hat ihn niemand von der Bluttat abgehalten?
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Die wirklich beunruhigende Frage zum Attentäter von Tucson ist, warum niemand diesen oft wirren, irrationalen jungen Mann auf seinem langen Weg zu seinem Ausbruch aufhalten konnte. Ich denke da nicht nur an die Menschen, die Jared Loughner im November die Waffe verkauften, oder an jene, bei denen er ein paar Stunden vor der Tat die Munition gekauft haben soll. Ich denke dabei an die Gemeinschaft, in der er lebte. Immerhin gab es offenbar Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung. In unserer Kultur kann oder will man aber Menschen wie ihn nicht stoppen, auch wenn ihr Verhalten noch so auffällig ist.
In den USA wird man allein gelassen, viel zu sehr. Ständig begegnen wir in Großstädten verwirrt wirkenden Obdachlosen und weichen, statt etwas zu unternehmen, ihren Blicken aus. Aber sogar wenn jemand versuchen möchte, Menschen aufzuhalten, die eine Gefahr für sich selbst oder für andere sein könnten, wird er auf Schwierigkeiten stoßen, wie Loughners Professoren im Pima Community College feststellen mussten.
Sehen Sie sich nur Loughners Grinsen auf den Bildern vom ersten Gerichtstermin an. Wir haben solche Gesichter schon vorher gesehen - Menschen, die ernsthaft gestört sind, aber unbetreut herumlaufen in unserer Zeit der "Entinstitutionalisierung".
Wer schon einmal in einer Unterkunft für Obdachlose gearbeitet hat, weiß, dass ein großer Teil von ihnen psychische Probleme hat, oft zusammen mit Drogen- und Alkoholproblemen, und früher vielleicht in einer staatlichen Einrichtung untergebracht war - aus den Augen und weitgehend auch aus dem Sinn.
Diese Einrichtungen waren ein Alptraum und die Bewegung der Entinstitutionalisierung, die diese Menschen davon befreit hat, hatte durchaus recht. Nur ging es ursprünglich dabei nicht darum, Patienten auf die Straße zu setzen, sondern offene Betreuungs- und Behandlungsangebote zu schaffen.
Der Fall Loughner zeigt, wie schwer es ist, etwas zu unternehmen, wenn man mit labilen Personen konfrontiert ist. Laut seinem College bekam er es wegen Störaktionen allein im letzten Jahr fünf Mal mit der College-Polizei zu tun. Suspendiert wurde Loughner allerdings erst ab 29. September, nachdem er das College als "Schwindel" bezeichnete und seine Lehrer als "Analphabeten".
Im College war man sich seiner potenziellen Gefährlichkeit bewusst. Wenn er sich jedoch über Loughners Störaktionen beklagte, erzählt einer seiner Lehrer, bekam er nur zur Antwort: "Er hat niemanden verletzt und keine Waffen in den Unterricht mitgebracht."
Sein Philosophieprofessor sagt: "Loughners Denken hatte keine Beziehung zu irgendetwas in unserer Welt." Der junge Mann war offenbar völlig durcheinander. Und dennoch war er in der Lage, eine Waffe und Munition zu kaufen und verrückte YouTube-Videos als Ankündigung seines Wahnsinns zu hinterlassen.
Seine Tat hat in den USA eine Diskussion über den Verfall der Umgangsformen ausgelöst. Das ist gut, aber wir sollten die Definition ausweiten. Es geht nicht nur darum, dass im Kabelfernsehen weniger geschrien wird, sondern darum, dass Menschen versuchen, so gut wie möglich aufeinander Acht zu geben. Es hat eine abstumpfende Wirkung, wenn man Obdachlose sieht, geifernd und murmelnd und frierend, und sich einfach umdreht, weil man das Gefühl hat, es gehe einen eh nichts an. Wie die meisten Probleme, die wichtig sind, ist Jared Loughners Tat nicht überraschend gekommen.
Übersetzung: Redaktion David Ignatius war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post". Originalfassung