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Wehe, wenn die Wutrichter kommen

Von Walter Hämmerle

Reflexionen

Tierschutz, Nachhaltigkeit, Forschung: Die Politik erhebt immer öfter in Verfassungsrang, was populär ist. Damit wächst Richtern eine Macht zu, die Experten für gefährlich halten.


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Wann genau es das erste Mal geschah, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Die einen sehen den Beginn dieser Entwicklung 1975, andere halten das Jahr 1955 für wahrscheinlicher; und eine Minderheit behauptet sogar, das allererste Mal, die Erbsünde sozusagen, sei schon 1919 erfolgt. Nur in einem Punkt sind sich alle einig: Ein Ende ist nicht absehbar, zu verlockend ist die Wiederholungstat.

Fromme Wünsche

Die Rede ist von Prosa in Verfassungsrang, also davon, vage Staatsziele, ja mitunter auch nur fromme Wünsche der Parteien an das Christkind in Verfassungsrang zu erheben. Gerade unter postmodernen Politikern erfreut sich dieser Trend steigender Beliebtheit, und dies, obwohl alles andere als klar ist, was denn genau die Politik mit den jeweiligen Verfassungsbestimmungen exakt beabsichtigt.

Die "umfassende Landesverteidigung" etwa wurde 1975 verfassungsrechtlich verankert. Was sich daraus im Detail für die konkrete Politik ableitet, ist heute so unbestimmt wie damals. Auf jeden Fall klingt diese "umfassende Landesverteidigung" gut, und eine ausreichende Unbestimmtheit ist in der Politik selten ein Fehler. Jedenfalls hat diese Selbstverpflichtung das Bundesheer nicht davor bewahrt, Jahr für Jahr mit geringerem Budget das Auskommen zu suchen.

Oder das Neutralitätsgesetz, der Klassiker aus dem Jahr 1955: Dessen verfassungsrechtliche Interpretation ist tatsächlich eine Tochter der Zeit und - dies vor allem - den Notwendigkeiten des jeweiligen parteipolitischen Standpunktes geschuldet. Dabei sollte die Festschreibung in der Verfassung ja eigentlich genau das verhindern, indem es bestimmte Fragen den Launen und Zwängen tagesaktueller Mehrheiten entzieht.

Natürlich ist das in der Realität graue Theorie. Auch die Verfassung liefert ein perfektes Spiegelbild der politischen Auseinandersetzungen um Grundsatzfragen auf Grundlage der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Mehrheitsverhältnisse. Doch die aktuelle Entwicklung weist diesbezüglich eine neue Qualität auf.

Beispielhaft veranschaulicht dies das "Bundesverfassungsgesetz über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, den umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung", kundgemacht im Bundesgesetzblatt Nr. 111/2013. Darin heißt es unter anderem wörtlich:

"§1. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen, um auch zukünftigen Generationen bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten."

Oder: "§3. (1) Die Republik (. . .) bekennt sich zum umfassenden Umweltschutz. (2) Umfassender Umweltschutz ist die Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen (. . .)" Oder auch nett: "§5. Die Republik (. . .) bekennt sich zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit hochqualitativen Lebensmitteln tierischen und pflanzlichen Ursprungs auch aus heimischer Produktion sowie der nachhaltigen Gewinnung natürlicher Rohstoffe in Österreich zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit."

Unverbindliche Worte

Das alles klingt natürlich hervorragend und liest sich fast noch besser. Stilistisch und begrifflich wäre eigentlich die Sonntagsrede eines x-beliebigen Politikers der richtige Platz für solche hehren und doch vor allem unverbindlichen Worte. Doch die Sätze finden sich - rechtsverbindlich - im wichtigsten Grundsatzdokument der Republik, der Bundesverfassung.

Wer über solche Verfassungsbestimmungen länger nachdenkt, der muss zwangsläufig ins Grübeln kommen. Denn zwangsläufig stellt sich die alles entscheidende Frage: Wer füllt diese Prosa über das politisch Wahre, Schöne und Gute mit konkreten Inhalten? Wer entscheidet, was zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich "umfassender Umweltschutz" ist, was eine "nachhaltige Gewinnung natürlicher Rohstoffe"? Ist die Weihnachtsbeleuchtung im Advent dann noch zulässig, wenn man den ungeheuren Stromverbrauch mitbedenkt? Ist Massentierhaltung verfassungswidrig? Und was ist mit Fracking, dieser sagenhaft effizienten neuen Fördertechnologie, die gerade den Weltenergiemarkt bei Erdöl und Gas durcheinanderwirbelt, allerdings über den Nachteil verfügt, dass sie für die Umwelt unabsehbare negative Folgen hat?

Ist nun der umfassende Umweltschutzgedanke das höhere Ziel oder die energiepolitische Unabhängigkeit, etwa von russischen Gasimporten? Welches von zwei erstrebenswerten Zielen wiegt schwerer?

Zu viel Macht in den Händen von Richtern

Das zu entscheiden ist in Demokratien die Aufgabe gewählter Politiker. Doch diese entmachten sich zunehmend selbst, indem sie nicht nur Rechtswege, sondern zunehmend auch Ziele konkreter Politik dem normalen politischen Wettbewerb entziehen und in der Verfassung verankern. Und damit legen sie die Letztentscheidung über inhaltliche Fragen in die Hand der Höchstrichter.

"Der Richter ist durch Wertungen strukturell überfordert, man muss sie ihm ersparen", hat Hans Kelsen, Co-Autor des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes, die Amtsperson charakterisiert, erklärt Eckart Ratz, Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH), und fügt an: "Ich würde den Satz um möglichst ersparen ergänzen." Für Ratz sind Wertungen in Sachfragen exklusive Angelegenheit der Politik, denn "wenn Politik nur noch in Hochherzigkeiten denkt und formuliert, gibt sie den Richtern viel zu viel Macht in die Hand". In den Augen des OGH-Präsidenten kann das nicht demokratisch sein: "Der Geschmack von Richtern ist nicht demokratisch legitimiert. Die Justiz braucht klare Vorgaben, um für gleiche Gerechtigkeit sorgen zu können. Alles andere steht dem Richter nicht zu."

Demokratisch legitimiert hin oder her - am Ende könnten trotzdem Richter das letzte Wort haben, weil die Politik - bewusst oder unbewusst - auf ihr Vorrecht verzichtet, Entscheidungen zu treffen. Wie sehr dies dem Geist und der Struktur der Bundesverfassung widerspricht, mag ein Zitat von Hans Kelsen veranschaulichen, der gemeinsam mit Adolf J. Merkl und Georg Fröhlich die juristische Struktur der Bundesverfassung entworfen hat. (Für den politischen Teil zeichneten der Christlichsoziale Ignaz Seipel sowie die beiden Sozialdemokraten Otto Bauer und Robert Danneberg verantwortlich.)

In einem Vortrag anlässlich der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1928 formulierte Kelsen zur Debatte über die Zulässigkeit von Enteignungen, die laut Gesetz dann für rechtens erklärt wurden, wenn die Enteignung "im öffentlichen Interesse" erfolge, den Grundsatz: Das "allgemein Beste" sei ein politischer Begriff, und "der Verfassungsgerichtshof muss es aufs Schärfste zurückweisen, dazu eine Meinung zu haben". Oder anders formuliert: Nach Auffassung Kelsens ist der Gesetzgeber für die Inhalte zuständig, die Verfassung für die Rechtswege. Punkt.

"Ursprünglich prägten kurze, klare Sätze die Verfassung", beschreibt der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs Karl Korinek den Sprachstil der Konstitution. Exemplarisch dafür ist etwa gleich der Auftakt: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus."

Mittlerweile jedoch, so Korinek, dominieren Satzungeheuer, "und das passt nicht mehr zusammen". Dieses harsche Urteil will der versierte Verfassungsrechtler durchaus auch inhaltlich verstanden wissen: "Tierschutz, Nachhaltigkeit, Wasser - hier gibt es kein Konzept, stattdessen regiert der Zufall, was in die Verfassung geschrieben wird, je nachdem eben, bei welchen Themen gerade politischer Druck ausgeübt wird."

Doch wo endet diese Entwicklung und - fast noch wichtiger - was werden ihre Folgen sein? Für Korinek liegen die Konsequenzen auf der Hand: "Je mehr unspezifische Themen ihren Weg durch das Parlament - einfachgesetzlich wie in Form von Zweidrittel-Materien - in die Gesetze finden, desto mehr gibt man dem Richterstand die Möglichkeit, sich zu entfalten."

Aber warum geben gewählte Abgeordnete und ihre Regierungen freiwillig Macht ab? Steckt dahinter ein größerer Plan, gar ein Konzept? "Das glaube ich ehrlich gesagt nicht", sagt Korinek, "dafür fehlt es der Politik am Verständnis für die Frage nach den langfristigen Folgen". Der ehemalige VfGH-Präsident vermisst bei der heutigen Politikergeneration ein Prinzip, das etwa der legendäre Kanzler Julius Raab stets zitiert hat: "Respice finem - bedenke, dass es ein Ende gibt."

Einer Politikergeneration, deren Horizont in der Regel selten über die unmittelbar anstehenden Wahlen hinausgeht, fehlt das Gespür für langfristige Machtverschiebungen selbst dann, wenn diese Verschiebungen zu ihren eigenen Lasten gehen. Indem Politiker Verfassungsbestimmungen mit schwammigen Allerweltsbegriffen ausschmücken, legen sie die Definitionsmacht über deren Sinn und Auslegung in die Hände von demokratisch nicht legitimierten Richtern.

Wie agieren künftige Richter-Generationen?

Für den Moment ist das nur in den seltensten Fällen ein Pro-blem. Noch ist der Stand der Höchstrichter durch die auf Ausgleich zwischen den beiden großen politischen Lager bedachten Traditionen der Zweiten Republik geprägt. Diese Kultur der Selbstbeschränkung sieht vor, dass die Höchstgerichte ihre Kompetenzen im Verhältnis zur Politik nur äußerst vorsichtig anwenden. Noch gilt, wie es Ex-VfGH-Präsident Korinek formuliert, das "Prinzip der wechselseitigen Rücksichtnahme der Verfassungsorgane", also im Wesentlichen von Parlament, Bundespräsident, Regierung und Höchstgerichten.

Doch diese von der Tradition her auferlegte Zurückhaltung ist nicht unbedingt für die Ewigkeit fixiert. Schon die nächste Richter-Generation könnte vom Parteien- und Politikerfrust geprägt sein, der seit Ende der 80er Jahre in der allgemeinen Bevölkerung konstant wächst. Eine solche neue Generation nähme es mit der Kultur der geübten Zurückhaltung, wenn es um die Auslegung der Verfassung geht, womöglich nicht mehr so genau.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Trend zum Wutbürger eines Tages auch Wutrichter hervorbringt. Zwar entscheiden Bundesregierung, National- und Bundesrat darüber, wer als Richter am Verfassungsgerichtshof aufsteigt; doch einmal ernannt, entscheiden die Höchstrichter völlig frei von Weisungen; zumindest bis zum Ablauf ihres 70. Lebensjahres, denn dann endet ihre Funktionszeit.

Richter hätten dann das Steuer in der Hand, das ihnen die Politiker durch eine schwammige Verfassungsgesetzgebung bereitwillig überantwortet haben. Die Kultur der Rücksichtnahme wäre einem Wettbewerbsdenken gewichen, das sich nicht länger allein auf den politischen Parteienwettbewerb beschränkt, sondern auch die obersten Verfassungsorgane erfasst.

Die dreizehn Richter am Verfassungsgerichtshof versuchen derzeit stets die größtmögliche Mehrheit hinter den Erkenntnissen zu versammeln; knappe Mehrheitsentscheidungen bilden - zumindest bis dato - eine rare Ausnahme. Die Politik tendiert in ihrer eigenen Sphäre dagegen schon heute zu einer Logik der geringsten notwendigen Mehrheit. Spätestens dann, wenn SPÖ und ÖVP über keine gemeinsame Mehrheit im Nationalrat mehr verfügen, wird es damit endgültig vorbei sein. Vor dieser Entwicklung hin zu knapperen, ja knappsten Entscheidungen ist auch das Justizsystem nicht gefeit. In den USA (deren System sich vom österreichischen freilich stark unterscheidet) ringen Demokraten und Republikaner schon seit jeher um die Mehrheit im Höchstgericht.

Unter solchen Bedingungen ist völlig offen, ob sich die Höchstgerichte auch weiterhin an den Grundsatz der Zurückhaltung bei der Einmischung in die Einflusssphären der übrigen Verfassungsorgane halten werden. Derzeit verfügen SPÖ und ÖVP noch über das Ernennungsmonopol bei Verfassungsrichtern. Das wird sich ändern - wahrscheinlich bereits 2018, vielleicht auch erst in den Jahren darauf. Es ist also nur eine Frage des Wann, nicht des Ob.

Jobbesetzungen in der politischen Zukunft

Die Gegenwart erlaubt schon jetzt einen Blick auf mögliche neue Konstellationen und ihren sich zuspitzenden politischen Wettbewerb: Berücksichtigt man bei der Nationalratswahl 2013 etwa nur die Wähler unter 30 Jahren, so liegen SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grüne mit jeweils rund zwanzig Prozent der Stimmen Kopf an Kopf, die Neos folgen mit knapp 10 Prozent. Ein solches Viereinhalb-Parteiensystem hat natürlich Folgen für die Wettbewerbskultur im Einflussbereich der öffentlichen Hand, und vor allem auf die Politik der dazugehörenden Jobbesetzungen, beispielsweise an den Höchstgerichten.

Hans Kelsen hat den Verfassungsgerichtshof einmal als "negativen Gesetzgeber" konzipiert, ausgestattet mit der Macht, verfassungswidrige Gesetze aufzuheben. Mit dieser Rollenverteilung wollten sich SPÖ und ÖVP nach 1945 nicht wirklich anfreunden. Mit ihrer Verfassungsmehrheit hievten sie in Verfassungsrang, was ihnen lieb und teuer war. Die Richter waren zwar "not amused", machten darüber hinaus jedoch - wie es ihrem Rollenverständnis entsprach - gute Miene zum bösen Spiel.

In einer nicht allzu fernen Zukunft könnten sich die Machtgewichte zulasten der Politik verändern. Nicht zuletzt deshalb, weil die Parteien die juristischen Einfallstore dafür selbst weit geöffnet haben. Natürlich können in einer solchen Entwicklung auch Chancen liegen, etwa für einen sorgfältigeren Umgang mit verfassungsrechtlichen Grundlagen in unserer zunehmend auch juristisch europäisierten Demokratie.

Dazu müsste die Politik jedoch zuerst einmal ihr eigenes Verhalten kritisch hinterfragen. Ob die Parteien in ihrem täglichen Kampf um Macht und Einfluss dazu in der Lage sind?

Walter Hämmerle, geboren 1971 in Lustenau/Vorarlberg, studierte Politikwissenschaft und Publizistik in Wien; seit 2002 Redakteur der "Wiener Zeitung", seit 2009 Stellvertretender Chefredakteur.