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Wehe, wenn Urteile nicht befolgt werden

Von Christoph Grabenwarter

Gastkommentare
Christoph Grabenwarter ist Mitglied des Verfassungsgerichts hofes, Professor für Öffentliches Recht an der Wirtschaftsuniversität Wien und Vizepräsident des Österreichischen Juristentages.

Warum ein stabiler Staat eine Verfassungsgerichtsbarkeit braucht.


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Die Verfassungen moderner Demokratien werden von den Grundprinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung bestimmt. Das Beispiel Österreichs zeigt, dass eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit ein unverzichtbarer Bestimmungsgrund des modernen gewaltengegliederten, demokratischen Rechtsstaates ist. Die Geschichte unseres Landes mit einer der längsten Traditionen einer Verfassungsgerichtsbarkeit macht auch deutlich, dass Krisen der Verfassungsgerichtsbarkeit mit Staatskrisen einhergehen.

Eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit alleine ist noch keine Garantie für verfassungsrechtliche Stabilität. Sie trägt aber wesentlich dazu bei. Sie misst im österreichischen Modell Gesetze und Entscheidungen der Verwaltungsgerichte am Maßstab der Verfassung, Verordnungen am Maßstab der Gesetze. Sie wacht auch darüber, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber, der über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, die verfassungsrechtliche Grundordnung einhält, die nur durch eine Volksabstimmung verändert werden darf.

Mit diesen Funktionen erfüllt sie Erwartungen der Bürger an ein Organ, das außerhalb des Kreises der politischen Akteure steht. Besteht öffentliches Vertrauen in die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts, so sind nicht nur die Entscheidungen des Gerichts jenseits rechtstheoretischer Legitimation auch in der Öffentlichkeit mit entsprechendem Gewicht ausgestattet. Die so vermittelte Legitimität kommt nicht nur den Entscheidungen des Verfassungsgerichts zugute, sondern auch jenen Gesetzen, Verordnungen und Einzelentscheidungen, die einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle ganz oder teilweise standgehalten haben.

Verfassungsgerichtsbarkeit dient dem Schutz einer Minderheit vor einer Mehrheit. Es kann sich um eine kleine Minderheit, ethnischer, religiöser, weltanschaulicher oder sonstiger Art, handeln. Es kann sich aber auch um machtvolle Oppositionsparteien handeln, die bestimmte Entscheidungen einer 51-Prozent-Mehrheit nicht hinnehmen wollen und das Verfassungsrecht auf ihrer Seite wähnen. Wer immer im Streit vor dem Verfassungsgericht recht bekommt, es gibt meist mehr als nur einen Gewinner. Neben dem, der im Verfahren obsiegt, kann auch der Unterlegene Leitlinien für künftiges Handeln gewinnen, können Unbeteiligte auf Basis des durch das Verfassungsgericht geschaffenen Rechts sichere Entscheidungen treffen: für Investitionen im Betrieb, die Gestaltung des Schulwesens oder die Finanzierung von Krankenanstalten.

Die beste Verfassungsgerichtsbarkeit kann nichts bewirken, wenn es keine Kultur der Befolgung von Entscheidungen eines Höchstgerichts gibt. Österreich hat in der letzten Phase des Kärntner Ortstafelstreits negative Entwicklungen in dieser Hinsicht erlebt. Dass dies nach nur wenigen Jahren als Episode in der Geschichte erscheint und seither durch eine Fülle positiver Umsetzung von Rechtsprechung auf Bundes- und Landesebene überlagert ist, zeigt, dass Österreich eine Verfassungskultur hat, die es einem Verfassungsgericht leicht macht, seinen ureigenen Aufgaben nachzukommen. Und dabei auch seinen Beitrag zur Stabilität des Staates zu leisten.