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"Nationalsozialismus in Wien" heißt ein neuer Band, der das dunkle Kapitel der Geschichte leicht verständlich, aber dennoch sehr differenziert und facettenreich darstellt.
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Wien. Vermittlung ist eines der Zauberworte, wenn es darum geht, Jugendlichen schwierige Sachverhalte anschaulich näher zu bringen. Je nach gewähltem Ansatz oder Umsetzung gelingt das einmal besser, einmal schlechter. Nicht jeder ist für jedes Thema zu begeistern. Vieles, was schon länger zurückliegt, empfinden Schülerinnen und Schüler zudem grundsätzlich als sperrig, als uninteressant. Die Plattform erinnern.at des Bildungsministeriums hat sich seit vielen Jahren der sensiblen und faktentreuen Vermittlung der Zeit des Nationalsozialismus verschrieben. Seit 2008 bringt erinnern.at nach und nach für jedes Bundesland einen Band zur spezifischen Ausprägung des Nationalsozialismus in dieser Region heraus. Montag Abend wurde im Wien Museum das Buch "Nationalsozialismus in Wien - Opfer. Täter. Gegner" präsentiert.
Schaffung von Verbindungen
Wenn es um die NS-Zeit geht, meinen die einen, das Thema werde gerade in der Schule schon zu intensiv behandelt, die anderen pochen auf noch intensivere Auseinandersetzung mit den dunklen sieben Jahren der österreichischen Geschichte. Die Autoren, der Historiker Albert Lichtblau (Universität Salzburg) und der AHS-Lehrer (Geschichte, Deutsch) sowie Wiener erinnern.at-Netzwerkkoordinator Martin Krist, legen mit dem Band über den "Nationalsozialismus in Wien" nun ein Standardwerk nicht nur für Jugendliche, sondern für alle am Thema Interessierte vor, das vor allem eines schafft: Verbindungen. Verbindungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Verbindungen von der NS-Zeit bis heute. Oder ein Buch, das, wie Bildungsministerin Sonja Hammerschmid es bei der Präsentation formulierte, "Erfahrungen von Macht, Ohnmacht und Gewalt" aufzeigt.
"Nationalsozialismus in Wien" kombiniert drei Ebenen: Fakteninformation in kurzen Kapiteln, die nach dem FAQ-Prinzip funktionieren, Porträts nicht nur von Opfern, sondern auch von Tätern und Mitläufern, die jeweils auch aufzeigen, warum die Menschen handelten und wie aus ihnen wurde, was sie waren, sowie schließlich jede Menge Fotos und Bilder, die nicht bloß Illustration sind, sondern die zusätzliche Geschichten erzählen.
Wie etwa die Plakate des NS-Regimes, die im fortschreitenden Krieg immer drastischere Durchhalteparolen unters Volk bringen. Da liest man dann Slogans wie "Der Tod fürs Vaterland ist ewiger Verehrung werth" oder "Nicht Du bist der Maßstab! Sondern die Front!". Aufnahmen von Displaced Persons wiederum zeigen, wie schwierig die Situation für Jüdinnen und Juden auch nach Kriegsende war.
Die Sprache wurde einfach gestaltet, wobei die Autoren auf die eingängige Wirkung des historischen Präsens vertrauen - der Inhalt ist aber komplex und differenziert: hier wurden die wissenschaftlichen Ergebnisse der vergangenen 20 Jahre penibel eingearbeitet. Das macht sich etwa bei dem Eingehen auf verschiedenste Opfergruppen bemerkbar: die Situation von Homosexuellen wird ebenso genau behandelt wie jene von Jüdinnen und Juden, von Roma und Sinti oder von psychisch Kranken. Das wird vor allem aber an der kritischen Darstellung des Nachhalls der NS-Zeit sichtbar: Da wird die Arbeit Simon Wiesenthals beleuchtet, da kommt der Fall Borodajkewycz zur Sprache, da wird die 2013 in Wien verstorbene Ceija Stojka mit dem traurigen Satz zitiert: "Wie meine Enkelin in der Schule gesagt hat, sie ist eine Zigeunerin, haben die Kinder geglaubt, sie ist eine Hexe und macht etwas Böses."
Schön und eingängig ist der Bogen, der vom multikulturellen Wien am Ende der Habsburger-Monarchie 1918 zur Frage "Ist Wien wieder multikulturell?" gespannt wird. Die Antwort fällt klar aus: Beschrieben wird "die neue Vielfältigkeit", zur Sprache kommt hier auch die Ausgrenzung der an ihrer Kleidung erkennbaren observanten muslimischen Mädchen und Frauen.
Nöstlinger erinnert sich
Manchmal sind es Details, die jenseits dessen erschüttern, was weithin bekannt ist, wie etwa die Frage: "Was wussten die Wienerinnen und Wiener?" Fazit: mehr als in den Nachkriegsjahrzehnten gemeinhin zugegeben wurde, denn Wehrmachtsoldaten und Angehörige der SS berichteten sehr wohl in Briefen nach Hause oder erzählten in ihren Heimaturlauben von den Massakern und der Massenvernichtung in Konzentrationslagern.
Zu Wort kommt hier die Autorin Christine Nöstlinger. Sie beschreibt die Reaktion ihrer Mutter, als ihr Onkel vor ihr über das Verbrennen der Leichen ermordeter Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern erzählt: "Mein Onkel, der ‚kleine Bruder‘ meiner Mutter ist zu Besuch. Er steht, groß und breit, in SS-Uniform neben meiner kleinen Mutter und sagt: ‚Ella, die Juden gehen alle durch den Rauchfang!‘ Und meine kleine Mutter bekommt ihr rotes Zorngesicht und gibt ihrem großen, kleinen Bruder eine Ohrfeige. Ich glaube, das war die einzige Ohrfeige, die meine friedliebende Mutter jemandem gegeben hat. Was ‚durch den Rauchfang gehen‘ zu bedeuten hat, war mir natürlich nicht klar, nur, dass es etwas schrecklich Böses sein musste."
Martin Krist, Albert Lichtblau: "Nationalsozialismus in Wien - Opfer. Täter. Gegner", Wien 2017, StudienVerlag, 448 Seiten, ISBN: 978-3-7065-5321-6, EUR 24,90