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"Weil sie leichtgläubig sind . . ."

Von Martin Zinggl

Reflexionen

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"Wiener Zeitung": Obwohl es Gesetze gibt, die Sklaverei und Menschenhandel verbieten, existiert beides noch in Nepal. Wie ist das möglich?

Anuradha Koirala: Sklaverei wurde in Nepal 1924 zwar offiziell abgeschafft, war in irgendeiner Form aber immer da, wenngleich darüber nicht gesprochen wurde. Nachdem 1990 die Demokratie ausgerufen wurde, begannen die Menschen erstmals über Menschenhandel zu sprechen, damals nur über Frauen und Kinder. Heute wissen wir, dass auch Männer davon betroffen sind.

Menschenhandel ist ein abscheuliches Verbrechen, eine Schande für die gesamte Menschheit. Trotzdem passiert es noch immer - und noch immer reden wir nur darüber. Aber noch immer passiert nichts dagegen. Es mangelt einerseits an Fürsorge, und andererseits an Druck, der auf Regierungen ausgeübt werden sollte, um die Gesetze, die ja verabschiedet wurden, auch tatsächlich umzusetzen.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen, den Menschenhandel zu beenden?

Sowohl in der Öffentlichkeit, als auch von offizieller Seite wird Armut als Grund für Menschenhandel genannt. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Nepals ärmste Bevölkerungsgruppe sind die Musahars - und die sind nie davon betroffen. Meiner Meinung nach liegt der Hauptgrund darin, dass wir in Nepal eine große Kluft zwischen den Geschlechtern haben. Das Grundübel lautet also Ungleichheit, und hinzu kommt das Problem mit der Bildung. Laut Regierung ist Bildung in Nepal frei, aber das ist falsch. Sogar die Regierungsschulen kosten Geld. Wenn also ein Vater mehrere Kinder hat, wird er eher seine Buben zur Schule schicken als seine Mädchen, wenn er es sich überhaupt leisten kann. Wo soll er denn im Dorf das Geld beschaffen? In seinem Verständnis werden die Mädchen ohnehin irgendwann verheiratet und kümmern sich dann um den Haushalt. Dafür brauchen sie keine Bildung.

Darum versuchen wir auch unsere Politiker davon zu überzeugen, wie wichtig Bildung ist. Wir betreiben Lobbying und arbeiten mit internationalen Organisationen wie der Weltbank zusammen, da diese unsere Regierung unterstützen. Wir sagen: "Gut, wenn Bildung angeblich frei ist, bestellt unserer Regierung doch bitte, dass Bildung verpflichtend sein soll und bei Nichtbeachten bestraft wird." Dann würden ja wohl alle Eltern ihre Kinder zur Schule schicken.

Warum ist eine Frau in Nepal - und vielen anderen Ländern dieser Welt - noch immer ein Mensch zweiter Klasse mit stark eingeschränkten Rechten?

Ich denke, die geistig-kulturelle Haltung in unserem Land und überall auf der Welt hat sich nicht verändert. Man hat Menschen zum Mond und Raumschiffe zum Mars geschickt, aber nach wie vor ist es in den Gehirnen verankert, dass Frauen zweitrangige Menschen sind. Auch wenn in einer Ehe beide Partner arbeiten, wird der Ehemann, wenn er abends nach Hause kommt, die Schuhe ausziehen und seine Frau fragen: "Kannst du mir eine Tasse Tee machen? Ich bin müde." Er denkt nicht, dass sie vielleicht auch müde ist und gerne hätte, dass er ihr den Tee zubereitet. Wir glauben nach wie vor, dass es die Verantwortung unserer Mütter, Schwestern und Frauen ist, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, nicht jene der Männer. Wir müssen alle umdenken, nur dann kann es Veränderung geben. Solange Frauen dominiert werden, wird sich nichts ändern.

Sind Sklaverei und Menschenhandel nur in bestimmten sozialen und kulturellen Gruppen möglich?

Früher schon, aber heute ist ganz Nepal davon betroffen, nicht nur in Form von Prostitution, sondern auch in Form von Zwangsarbeit in den Golfstaaten, Zentralasien, Israel und Afrika. Die Hauptgruppe, die seit den 1950er Jahren den Schmugglern zum Opfer fallen, sind die Tamang aus der Hima-layaregion.

Und warum gerade Tamang?

Weil sie leichtgläubig sind. Das sind nicht meine Worte, sondern ihre. Wenn ich mit diesen Mädchen spreche, erzählen sie mir immer, dass sie "den Menschen sehr schnell vertrauen und glauben". Sie sind also sehr unschuldig, sehr naiv. Darum folgen sie auch jedem. Bildung ist sehr dürftig in diesem Gebiet, und der soziale Status der Tamang ist auch sehr niedrig innerhalb der nepalesischen Gesellschaft.

Wie erfolgt der erste Kontakt zwischen Schmugglern und Opfern? Wie kann man sich so eine Situation vorstellen?

Ein Menschenhändler kommt ja nicht hereinspaziert und sagt: "Ich nehme jetzt eure Tochter mit und mache eine Prostituierte aus ihr." Jeder Vater würde ihn wahrscheinlich auf der Stelle umbringen. Nein, er sagt: "Eure Tochter wird älter. Sie braucht Geld, um sich zu verheiraten. Ich kann ihr eine gute Arbeit in der Stadt verschaffen. Sie kommt mit mir und dafür gebe ich euch vorab schon einmal den Verdienst des ersten Jahres. Nächstes Jahr bringt sie dann doppelt so viel mit, wenn sie zurückkommt. Und dann könnt ihr sie verheiraten." Aber das nächste Jahr kommt nie . . .

Das klingt so einfach . . .

In den Dörfern gibt es so gut wie keine Jobmöglichkeiten, darum stoßen die Schmuggler ja auch immer auf offene Ohren. Väter machen sich natürlich Sorgen um ihre Töchter, glauben aber durch dieses Angebot eine einzigartige Möglichkeit bekommen zu haben. Zudem sind die Schmuggler zumeist Bekannte oder sogar Verwandte der betroffenen Familien. Nur in seltenen Fällen kommt ein richtiger Außenseiter. Dieser bekannten Person schenkt man natürlich seinen Glauben und freut sich über den Hoffnungsschimmer. Der Schmuggler nimmt das Mädchen mit und verkauft es weiter.

Wer sind diese Menschenhändler?

Es gibt drei große Verbrechen auf dieser Welt: Drogen, Waffen und Menschenhandel. Hinter allen dreien steckt die Mafia, also organisiertes Verbrechen. Sie operiert von Indien aus und hat ihr Netzwerk bis in die kleinsten Dörfer Nepals.

Können Sie das Ausmaß von Menschenhandel in Nepal ungefähr abschätzen?

In Nepal selbst gibt es kaum Bordelle oder richtige Rotlichtmilieus. Nichtsdestotrotz werden jedes Jahr mindestens 1200 unserer Mädchen über die Grenze nach Indien verschleppt. Wohin es danach weitergeht, wissen wir noch nicht genau. Wir vermuten aber, dass rund die Hälfte als Zwangsarbeiterinnen verkauft wird. Die andere Hälfte endet in Indiens Bordellen.

Stoßen Sie mit Ihrer Arbeit auch auf Widerstand? Gibt es Menschen, die Ihnen wegen Ihres Einsatzes negativ gegenüberstehen?

Menschen werfen nur Steine auf Obstbäume, die Früchte tragen. Niemand wirft Steine auf einen leeren Baum. Was Menschen über mich reden, fühle ich nicht. Mir ist das egal. Sogar innerhalb meiner eigenen Familie gab es zu Beginn großes Misstrauen. Mein Schwiegervater sagte immer: "Vielleicht arbeitet sie für all diese Prostituierten? Vielleicht ist sie selbst auch eine Prostituierte?" Das war sehr hart für mich. Aber der Elefant trampelt weiter, auch wenn die Hunde um ihn herum bellen.

Wurden oder werden Sie mit dem Tod bedroht?

Ja, aber ich fürchte mich nicht. Ich weiß nicht, wie das System vor der Demokratie war, da ich nie damit zu tun hatte, aber danach - und es tut mir sehr leid, wenn ich jemandem damit zu nahe trete, aber man kennt mich dafür, dass ich unverblümt rede - ist es ein Witz geworden. Ich denke, in jedem Land der Welt haben Häftlinge keinen Zugang zu Mobiltelefonen. Außer natürlich in Nepal. Ich bekomme regelmäßig Drohanrufe: "So, du gehst also gerade zur Bank?!", "Du warst heute am Markt einkaufen!", "Heute haben wir dich noch verschont!", "Wir wissen, wo deine Kinder wohnen!", "Wir können dich jederzeit auslöschen!"

Ich antworte dann immer: "Ich wünschte, du würdest vor mir stehen, von Angesicht zu Angesicht. Denn, wenn du mir von hinten ein Messer in den Rücken rammst, kann ich mich nicht wehren. Du magst zwar ein Mann und stärker sein, aber ich werde mich dennoch verteidigen. Vielleicht schlägst du mich zweimal, aber einmal schlage ich dich zumindest auch."

Gibt es denn etwas, wovor Sie sich fürchten?

Ich fürchte mich vor drei sehr wichtigen Dingen: Gott, was auch immer Gott ist, denn auch wenn ich eine katholische Schule besucht habe, bin ich keine Katholikin. Aber ich genoss eine Erziehung des Glaubens. Ich fürchte Gott, da er derjenige ist, vor dem ich mich zu allerletzt verantworten muss. Zweitens: vor meinen Eltern. Und drittens: Schlecht über andere zu sprechen, da das beinahe immer zu Missinterpretationen führt. Ich mag diesen Klatsch und Tratsch nicht.

Aber nicht mögen ist ja nicht dasselbe wie fürchten . . .

Ich fürchte mich tatsächlich davor, denn dadurch entstehen Mythen und Missverständnisse, die wiederum Freundschaften und Beziehungen zerbrechen können. Man muss sich nicht nur vor Schlägereien und Messerstechereien fürchten. Der mögliche Bruch einer Freundschaft ist eine ebenso große Gefahr.

Wie und warum haben Sie diese Aufgabe begonnen? Gab es einen spezifischen Moment oder eine Erinnerung, die Ihr Leben verändert haben?

1990 war gegenüber von meinem Haus die Organisation ABC Nepal, die sich um Opfer von Menschenhandel kümmert und gute Arbeit macht. Allerdings hatten sie keine Unterkünfte für die befreiten Mädchen. Eines Tages retteten sie Geeta, die erste HIV/Aids-infizierte Frau Nepals. Niemand wollte sie aufgrund ihrer Krankheit aufnehmen. An meinen freien Tagen schaute ich nach Geeta und irgendwann fragte mich die Organisation, ob ich nicht bereit wäre, Geeta bei mir zu Hause aufzunehmen. Gesagt, getan.

Von nun an teilten sich mein Sohn und ich ein Bett und Geeta bekam das andere - und das in einem einzigen Raum. Ich hatte alle diese bösen Geschichten über Aids gehört - und plötzlich teilte ich mein Heim mit einer dieser Aids-Patientinnen. Geeta würde mich nicht schlafen lassen. Jede Nacht erzählte sie mir entsetzliche und herzzerreißende Geschichten. Sie vertraute mir und schüttete ihr Herz aus, da ich ihr ein Zuhause gab. Nachdem ich ihre Horrorgeschichten gehört hatte, dachte ich: "Anuradha, du solltest. . ." Das war der Beginn.

Geeta ist schlussendlich an Aids verstorben. . .

So wie viele andere Mädchen auch, um die ich mich gekümmert habe. Ich brachte ihren Leichnam zum Pashupatinath Tempel, um sie dort zu kremieren. Normalerweise kostet das 800 Rupees, aber als ich meine toten Mädchen dort hinbrachte, verlangten sie das Zehnfache von mir.

Weil die Mädchen HIV-positiv waren?

"Weil deine Mädchen Aids haben und wir dadurch auch Aids bekommen können", sagten die Bestatter. Diese Ereignisse werde ich niemals vergessen. Und dann redet die UNO immer noch über Menschenrechte. Was ist da gerecht? Mittlerweile weiß ich, was Recht und was Unrecht ist. Ich wurde oft genug damit konfrontiert. Diese Mädchen hatten kein einziges Recht. Nicht einmal nach ihrem Tod.

Und trotzdem gehen Sie nach wie vor enthusiastisch an Ihre Arbeit heran. Woher schöpfen Sie Ihre Energie?

Von meinen Mädchen. Jeden Tag gibt es in diesem Gebäudekomplex neue Mädchen, neue Geschichten, neue Dimensionen. Wie sie geschmuggelt werden, wie sie benutzt werden, wie sie gezwungen werden. Ihr Schmerz und ihr Leid lassen mich immer weitermachen. Jeden Tag würde ich am liebsten sterben, aber dann sage ich mir immer: "Du darfst nicht sterben, es gibt noch zu viel zu tun. . ."

Haben Sie ein Idol?

Natürlich meine Eltern und meinen Großvater. Vor allem aber Mutter Teresa. Von ihr habe ich gelernt, dass man selbstlos arbeitet und nichts dafür als Gegenleistung erwartet. Das ist meine Lebensphilosophie.

Wenn es etwas in Ihrem Leben gäbe, das Sie ändern könnten, was wäre es?

Ich wünschte, ich könnte Maiti Nepal schließen. Das würde bedeuten, dass es keinen Menschenhandel mehr gibt.

Ist Prävention Teil Ihrer Arbeit, beispielsweise durch Bildungsprogramme?

Innerhalb von Maiti Nepal, hier in Kathmandu, haben wir unsere eigene Schule, wo wir die Kinder unterrichten. Wir machen Workshops und Trainingcenters, sowie Spezialklassen für sexuell missbrauchte Mädchen. In den Dörfern gibt es Präventionshäuser, wo wir Seminare und Trainings anbieten. Außerdem veranstalten wir mehrmals pro Jahr Sensibilisierungskampagnen. Dabei ziehen wir mit unseren Mädchen von Dorf zu Dorf, reden über Menschenhandel, veranstalten Theater und singen Präventionslieder.

Erhalten Sie Unterstützung von der nepalesischen Regierung?

Wir bekommen keine Unterstützung, aber das bedeutet nicht, dass sie gegen uns und unsere Anliegen sind. Sie reden darüber, unterzeichnen Verpflichtungen.

Wie kann man sich eine Bordell-Razzia vorstellen?

Wir arbeiten gemeinsam mit der Polizei und haben dort nach jahrelangem Vertrauen anständige Kollegen gefunden. So eine Razzia passiert in Etappen nach mehreren Nachforschungen unsererseits. Wenn es dann zur Razzia kommt, reagieren die Bordellbetreiber zumeist sehr aggressiv und verstecken die Mädchen. Aber wir finden sie. Leider können wir nicht immer alle Mädchen überzeugen, mit uns mitzukommen. Viele fürchten sich vor diesem Schritt. Oftmals haben es die befreiten Mädchen nachher sehr schwer, in die Gesellschaft reintegriert zu werden, und werden sogar von ihren eigenen Familien verstoßen. Aber sie können reintegriert werden. Viele unserer Mädchen arbeiten heute in der Tourismusbranche, in Gästehäusern, in Bäckereien, in Tischlereien überall in Nepal. Manche produzieren Schmuck und Taschen, die an Touristen verkauft werden. Wir geben ihnen eine Ausbildung und Unterricht, und wenn sie bereit sind, helfen wir ihnen, eine Arbeit zu finden.

Sie haben viele Preise erhalten, zuletzt auch den Mutter-Teresa-Lebenswerk-Preis. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Sie?

Das bedeutet mir nichts und erfüllt mich auch nicht mit Stolz, wenngleich ich mich über den Mutter-Teresa-Preis gefreut habe. Ich brauche keine Auszeichnungen mehr. Sie erinnern mich lediglich daran, dass das Grundproblem nach wie vor da ist und ich weiter kämpfen muss.

Zur Person
Anuradha Koirala, geboren 1949, betreibt seit 1993 die NGO "Maiti Nepal", die sich landesweit und darüber hinaus um junge Mädchen und Frauen kümmert, die verschleppt wurden. In den vergangenen 23 Jahren hat Koirala rund 25.000 Mädchen aus indischen Bordellen befreit und ihnen in Kathmandu ein Zuhause gegeben. Koirala beendete ihre Arbeit als Englischlehrerin an einer Grundschule in Kathmandu, um sich für die Opfer von Menschenhandel, Vergewaltigung, häuslicher Gewalt und Polygamie einzusetzen. Für ihr Engagement hat sie viele internationale Auszeichnungen erhalten.
Weitere Informationen unter: www.maitinepal.org