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Weise und feige

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Die Pandemie hat das Sterben verändert. Daraus sollten wir lernen.


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Einer der bedrückendsten Gedanken inmitten der Pandemie ist, dass das Virus das Sterben der Menschen mehr noch als ihr Leben verändert hat. Das Abschiednehmen, wenn es denn die Gelegenheit dazu gibt und der Tod einen nicht mitten im Leben überrascht, ist nie einfach, nicht für den Sterbenden und schon gar nicht für die Nächsten. Aber diese Nähe war zumindest prinzipiell möglich. Dass viel zu oft viel zu viele trotzdem die letzten Stunden, Tage und Wochen alleine verbringen, ist eine soziale Kälte, über die nur niemand spricht.

Am Freitag hat die offizielle Republik mit Bundespräsident und Bundeskanzler an der Spitze der Covid-Toten gedacht, deren Zahl bald die Marke von 10.000 erreichen wird; das entspricht der Einwohnergröße einer Kleinstadt (jährlich sterben, über den Durchschnitt der vergangenen Jahre gerechnet, rund 83.000 Menschen in Österreich). Die Veranstaltung war einfach und würdig gehalten, das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen und der Dank an die Helfer in den Krankenhäusern und Pflegeheimen standen im Zentrum. Dabei wies Bundespräsident Alexander Van der Bellen darauf hin, dass "hinter der Unwiderruflichkeit des Todes" auch eine "tiefe menschliche Weisheit" stehe: "Das Leben ist wertvoll. Unendlich wertvoll. Lassen Sie uns unsere Verstorbenen gemeinsam in liebender Erinnerung im Herzen behalten. Und lassen Sie uns das Leben schätzen." Ob das schon Weisheit ist, sei dahingestellt; es ist auf jeden Fall grundvernünftig: Aller Voraussicht nach haben wir nur dieses Leben.

Umso nachhaltiger haben sich die Bilder vom massenhaften, alleingelassenen Sterben in vielen Köpfen eingebrannt, die in der ersten Hälfte der Pandemie über alle Kanäle gelaufen sind - aus der benachbarten Lombardei wie aus dem fernen New York, wo sich die Särge stapelten. Zumindest dies blieb Österreich erspart, obwohl auch hierzulande der Tod gerade in den Pflegeheimen reiche Ernte gehalten hat.

Daraus ist, über Umwege, die unbequeme Frage über den Preis eines Lebens entstanden: Wie viel an Einschränkungen ist den Gesunden und Jüngeren zumutbar, um die Alten und Kranken zu schützen? Um eine explizite Antwort hat sich diese Gesellschaft wie jede andere westlich-demokratische herumgeschlichen; wahrscheinlich würden wir schon die Debatte nicht aushalten, geschweige denn die Antworten, egal, ob so oder so. Das jedenfalls kann man weise nennen oder feige. Richtig ist beides. Nur lässt uns das Thema nicht los. Nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs muss eine Lösung für die Öffnung der Sterbehilfe gefunden werden. Hoffentlich wenigstens nicht allein und isoliert.