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"Weißrussland ist ein schwarzes Loch"

Von Gerhard Lechner aus Minsk

Politik
Will Weißrussland stärker an die EU binden: Tatzjana Karatkewitsch.
© Katarzyna Ulma-Lechner

Die Opposition in Minsk setzt bei den Präsidentenwahlen am Sonntag auf "friedlichen Wandel" und eine Frau als Kandidatin. Tatzjana Karatkewitsch über ihre politischen Pläne und die schwierige Arbeit der Regimegegner im Reich Lukaschenkos.


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Minsk. Tatzjana Karatkewitsch wirkt müde, aber entschlossen. Es ist neun Uhr abends, und die 38-jährige Weißrussin hat gerade eine anstrengende Wahlveranstaltung hinter sich gebracht, die von Provokateuren des Regimes gestört wurde. Ihre Chancen, Präsidentin zu werden, sind gleich null: Staatschef Alexander Lukaschenko, der mit diktatorischen Vollmachten regiert, wird sich am Sonntag wohl auch mittels Manipulationen wieder zum Präsidenten wählen lassen. Die weißrussische Opposition hält mit Karatkewitsch und ihrer Parole vom "friedlichen Wandel" dagegen.

"Wiener Zeitung":Frau Karatkewitsch, Sie gelten als einzige echte Kandidatin der demokratischen Opposition, die restlichen Kandidaten sind vom Regime handverlesen. Vor fünf Jahren, bei den letzten Wahlen, traten mehr "echte" Oppositionskandidaten an. Die wurden dann nach den Protesten am Wahlabend zum Teil lange inhaftiert - der Sozialdemokrat Mikolaj Statkewitsch ist erst diesen August freigekommen. Erwartet Sie nach dem 11. Oktober ein ähnliches Schicksal? Gehen Sie nicht ein hohes Risiko ein?

Tatzjana Karatkewitsch: Ja, natürlich, es ist schon ein Risiko. Aber im Leben eines jeden Menschen gibt es Risiken, bei so manchem Arbeitswechsel oder größeren Investitionen etwa. Risiken tragen wir alle.

Sie glauben also nicht, dass Sie Ihre Zeit danach im KGB-Gefängnis "Amerikanka" in Minsk verbringen werden wie Ihre Vorgänger?

Sagen wir es so: Ich wünsche mir das natürlich nicht. Aber meine persönliche Situation ist sicher nicht das Wichtigste. Es geht um das Schicksal des Landes. Wenn wir so weitermachen, wandern noch mehr Menschen aus und die Wirtschaftskrise vertieft sich. Für uns als Opposition ist es wichtig, dass wir auf diese Lebensfragen der Menschen Antworten finden. Wir haben uns in den vergangenen Jahren ein wenig zu sehr auf die persönliche Gegnerschaft zu Lukaschenko konzentriert, auf ein Machtspiel, und das Wichtigste dabei vergessen: dass wir vor allem die Unterstützung der Menschen brauchen. Das dauert natürlich. Diese Unterstützung bekommt man nicht von einem Tag auf den anderen. Wir haben uns heute für einen evolutionären Weg entschieden. Wir wollen langsam das Vertrauen der Leute gewinnen.

Viele Oppositionelle, auch Wladimir Neklajew, in dessen Team sie früher mitgearbeitet haben, haben sich entschlossen, die Präsidentenwahlen zu boykottieren. Legitimieren Sie mit Ihrem Antreten nicht einen ohnedies gefälschten Urnengang in Belarus?

Nun, die Wahlen legitimieren zum einen vor allem jene Leute, die das Regime unterstützen. Unterstützung erfährt Lukaschenko aber indirekt auch von jenen, die für einen Boykott eintreten. Diese Leute erkennen damit doch nur seinen Sieg an. Ihre Stimmen braucht man nicht fälschen, weil sie erst gar nicht in Erscheinung treten. Ich bin dafür, dass wir für unsere Ziele und Werte kämpfen. Sollen wir denn, weil in Belarus de facto nur ein Mann regiert, von vornherein w.o. geben und an den Wahlen nicht teilnehmen? Ich finde nicht. Es haben sich ja auch nicht viele zum Boykott entschlossen. Massenbewegung ist das keine. Ein Boykott hilft nur Lukaschenko. Seine Unterstützung liegt bei etwa 36 Prozent.

Woher haben Sie diese Zahl? Die wirkliche Höhe der Unterstützung in der Bevölkerung für Lukaschenko ist schon lange Gegenstand von Spekulationen...

Ich habe die Zahlen aus Umfragen unabhängiger soziologischer Institute. Das Rating Lukaschenkos pendelt dabei immer zwischen 30 und 38 Prozent, je nach politischer und ökonomischer Großwetterlage. Höher war es in den vergangenen 20 Jahren im Prinzip nicht. Lukaschenko lebt natürlich vom geringen Bekanntheitsgrad der oppositionellen Kandidaten. Als ich bei der letzten Präsidentenwahl für den dann inhaftierten Kandidaten Wladimir Neklajew gearbeitet habe, lag dessen Rating bei neun Prozent. Das war bereits ein sehr hoher Wert.

Und wo liegen Sie?

Im Juni waren es zwei Prozent (lacht). Jetzt sind es laut einer neuen Umfrage immerhin schon mehr als sieben Prozent.

Vor fünf Jahren, bei der letzten Wahl, war Europa nicht in einer derartigen Krise wie jetzt. Heute haben wir eine ungelöste Griechenland-Krise, eine Euro-Krise, Migrationsströme nach Europa und einen Konflikt in der Ukraine samt Säbelrasseln zwischen Russland und dem Westen. Hilft all das Lukaschenko? Die Wahlveranstaltungen der Opposition waren vor fünf Jahren jedenfalls besser besucht.

Ja, das hilft ihm tatsächlich sehr stark. Er lässt durch seine Propagandisten auch verbreiten, wie schlecht man in Europa lebt.

Und das wirkt?

Ja, das wirkt. Obwohl die Situation in Belarus ja alles andere als rosig ist. Die Menschen verstehen aber nicht, dass ihre täglichen Probleme auch von einer falschen Politik verursacht wurden. Sie sammeln auch lieber Unterstützungsunterschriften für einen Kandidaten, als ihn dann am Wahltag wirklich zu wählen.

Welche Perspektiven hat die Opposition in Weißrussland überhaupt?

Das ist sehr schwer zu sagen. Wir haben uns jetzt einmal das Ziel gesetzt, es sozusagen graswurzelartig zu versuchen, in echten Kontakt mit den Menschen zu treten. Was danach kommt, weiß ich nicht. Die Leute interessieren sich nicht sonderlich für das Thema, ob die Präsidentenwahlen fair und frei verlaufen oder nicht. Unsere Aufgabe ist es jetzt, unsere Stimmen zu sammeln und weiter in Erscheinung zu treten, auch auf parlamentarischer und kommunaler Ebene. Die Wahlen, das ist ja heute schon klar, werden ohnehin manipuliert sein. Wir müssen langfristig denken.

Gibt es Leute innerhalb der weißrussischen Opposition, die angesichts dieser eher düsteren Aussichten auf ein revolutionäres Szenario in Belarus setzen - nach dem Vorbild der ukrainischen Maidan-Proteste?

Nur sehr, sehr wenige. Im Prinzip wissen alle, dass ein solches Szenario in Weißrussland unmöglich ist. Die Menschen wollen es nicht. Das ukrainische Beispiel wirkt auch sehr abschreckend: Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, den Leuten geht es schlecht. Es gibt zwar mehr Auswahl beim politischen Personal, aber die Politiker spielen ihre Spiele und hören nicht auf die Leute. Die Beamten sind oft korrupt und so weiter. Diese Situation lädt auch deshalb zur Einmischung von außen ein.

Apropos Einmischung von außen: Weißrussland hat eine ähnliche geopolitische Lage wie die Ukraine, das Land liegt zwischen Russland und der EU. Es ist sogar noch stärker russifiziert als die Ukraine, viele Menschen informieren sich über russische Informationskanäle. Welche Politik würden Sie als Präsidentin machen - vor allem Russland gegenüber?

Russland ist heute sicher ein besonderer Partner. Aber das Verhältnis zu Moskau bedarf einer Revision. Lukaschenko hat das spezielle Verhältnis zu Russland ausgenützt, um in Belarus an der Macht zu bleiben. Die Eurasische Wirtschaftsunion mit Russland funktioniert mehr schlecht als recht. Russland will einen Luftwaffenstützpunkt in unserem Land errichten. Das ist Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten. Wir Weißrussen müssen ganz einfach unsere nationalen Interessen stärker vertreten. Vor allem die Beziehungen mit der EU sind sehr schlecht. Sie könnten viel besser sein.

Kann es zu einer Annäherung kommen?

Ja, natürlich. Wir sind durch eine gemeinsame Geschichte verbunden. Es gäbe ein großes Potenzial, wenn es genutzt würde. Wir brauchen eine Normalisierung in unseren Beziehungen. Das könnte auch passieren. EU-Politiker haben ja schon von der Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit mit Weißrussland gesprochen, von besonderen Verträgen auch außerhalb einer EU-Assoziierung wie mit der Ukraine. Das wäre ein guter, dringend nötiger Weg. Heute sind sogar - trotz der Ukraine-Krise - die Beziehungen zwischen Russland und Europa stärker als unsere mit der EU. Belarus ist auf der Landkarte derzeit ein schwarzes Loch. Das wollen wir ändern. Unsere Vision ist, dass unser Land ein friedliches, in seiner Verteidigungspolitik neutrales sein soll, das gute Beziehungen mit seinen Nachbarn pflegt - mit denen im Westen, Osten, Süden und Norden.

Tatzjana Karatkewitsch ist studierte Psychologin. Die 38-Jährige arbeitete bei den letzten Präsidentenwahlen 2010 im Wahlkampfteam von Oppositionskandidat Wladimir Neklajew mit, der nach den Wahlen ins Gefängnis kam. Die verheiratete Frau, die einen 12-jährigen Sohn hat, tritt für die Plattform "Sag die Wahrheit!" bei den Präsidentenwahlen am 11. Oktober an.