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Weitermachen - oder Bühne frei für die Schwachmatiker

Von Walter Hämmerle

Politik
© © European Union 2016 - Source : EP/Dominique Hommel

Entschlossenheit, Pathos, Floskeln und Plattitüden - Brüssel eine Woche nach dem Brexit-Votum.


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Brüssel. Wer wissen will, wie sich eine einseitig angekündigte Trennung anfühlt, muss dieser Tage nach Brüssel reisen. Hier, wo mit dem Parlament, der Kommission und dem Rat mehr als nur das bürokratische Herz der EU schlägt, treibt der britische Wunsch nach Trennung jeden Einzelnen um. Und keineswegs immer sind diese Gefühle frei von der zweifelhaften menschlichen Sehnsucht, die anderen mögen das noch einmal bereuen. In der Hotelbar wird deshalb mitgejubelt, als am Montag die Isländer die Engländer im Achtelfinale aus der Fußball-Europameisterschaft kicken. Sogar im Pub, diesem letzten Symbol vergangener britischer Größe, wird hier unverhohlen die Fortsetzung des englischen Fußball-Traumas gefeiert.

Nüchterner reagieren die offiziellen Vertreter Europas. Der Grundsatz "wer nicht hören will, müsse die Folgen spüren" mag in Pädagogik und Justiz ausgedient haben, in der Politik ist das keineswegs so. Immerhin gilt es jetzt ja allfällige Nachahmungsversuche abzuschrecken. Wobei: So richtig weiß nach dieser turbulenten Woche niemand, wie es weitergehen wird, nicht in Brüssel und schon gar nicht in London. Nach dem ersten Schock - "eine Woche kann in der Politik eine lange Zeit sein", meinte der irische EU-Kommissar Phil Hogan lebensweise - gewinnt nun Pragmatismus wieder an Boden. Und trotzdem: Politik dürfe nicht zu einem Spiel verkommen, erklärt des EVP-Abgeordnete Othmar Karas. Und für Spieler halten tatsächlich die meisten hier Nigel Farage, Boris Johnson und Co.

Syed Kamall, ein Tory, der die EU-skeptische ECR-Fraktion im EU-Parlament anführt, hat für den Brexit gestimmt. "Remain" wie "leave" hätten beide gute Argumente auf ihrer Seite gehabt. Was ihn überrasche, sei, dass London nun ohne Brexit-Plan dastehe. Das hätte er sich, so Kamall, nicht erwartet. Und sein Plan? Ein Freihandelsabkommen mit den EU-27 sollte rasch möglich sein, vermutet der Tory, für alles weitere - insbesondere für einen Zugang britischer (Finanz-)Dienstleistungen zum EU-Markt - werde London Gegenleistungen erbringen müssen. Kamall bringt hier Zahlungen Londons ins EU-Budget für Forschung, Entwicklung und Universitäten ins Spiel. Alles ist eben ein Nehmen und Geben.

Schnell wird beim Brexit gar nichts gehen

Oder vielleicht in das Agrarbudget der EU? Die Briten sind Nettozahler, folglich bleibt nach ihrem Austritt weniger für alle anderen übrig. Das könnte sich für Bauern und ländliche Regionen negativ auswirken, erläutert Agrarkommissar Hogan. "Aber wohl erst nach 2020", wenn der laufende Finanzrahmen ende. Überhaupt rechnet der Ire damit, dass die Verhandlungen mit den Briten weitaus länger als die vorgegebenen zwei Jahre dauern könnten.

Keine Lust auf den Schwarzen Peter für den Brexit hat Christos Stylianides. Der Zypriote ist in der Kommission unter anderem für das Krisenmanagement in der Flüchtlingskrise zuständig. Demnach würde er zumindest Mitschuld am knappen "Leave"-Votum der Briten haben, das behaupten jedenfalls David Cameron und auch Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Nicht persönlich, aber doch indirekt, weil die EU-Politik in dieser Frage völlig versagt habe. Stylianides will davon nichts wissen. Die Flüchtlingskrise habe die EU vor eine noch nie dagewesene Herausforderung gestellt, darauf sei keiner vorbereitet gewesen. Und Lösungen seien ja schließlich nicht an Brüssel oder der Kommission, sondern am Streit der EU-Staaten gescheitert.

Einigkeit gebe es zwar immer noch nicht, trotzdem sei inzwischen viel geschehen: Zuvorderst der Deal mit der Türkei, zu dem es keine, und zwar überhaupt keine Alternative gebe, sodann die Hilfe für Griechenland bei der Bewältigung der Krise, und etliche Maßnahmen, die Flüchtlinge vor Ort oder in den unmittelbaren Anrainerstaaten zu versorgen. Europa, daran will der bärtige Zypriote nicht rütteln lassen, dürfe keine Lösungen in der Flüchtlingsfrage suchen, die auf Kosten von Humanität und Solidarität gingen. Einst sei er, Stylianides, schließlich selbst Flüchtling gewesen.

Andere wollen die EU-Kommission nicht so leicht aus der Verantwortung lassen: Das erste Krisenmanagement sei "eine Katastrophe" gewesen, die Pläne für verpflichtende Quoten für alle EU-Mitglieder im Wissen um den erbitterten Widerstand mancher sinnlos; klüger wäre gewesen, Anreize für die Aufnahme von Flüchtlingen zu setzen statt Strafen, hier habe sich Jean-Claude Junckers große Nähe zu Angela Merkel fatal ausgewirkt. Doch diese Kritik hört man im offiziellen Brüssel nur inoffiziell. Es sei denn, man redet mit den ausgewiesenen EU-Kritikern.

Dabei gibt es durchaus jene, die am liebsten auf Attacke umschalten, die Farage, Le Pen, Wilders, Strache, Grillo und Co in offener Schlacht um die Zukunft der Union gegenübertreten würden. Leider, oder wie die Briten sagen "alas", sitzen die eher nicht an den Regierungshebeln in den Hauptstädten der verbliebenen 27 EU-Mitgliedstaaten, aber sehr wohl in den obersten Rängen der EU-Verwaltung. Mit halbseidener Kritik an der EU will sich so einer - "bleiben wir im Off", meinte er, "das macht mehr Spaß" - nicht aufhalten: Stichwort Ceta. "Machen Sie aus Ihrem Gerücht ein Gericht", poltert es aus dem EU-Highflyer heraus, man solle die Unterlagen lesen, er habe es schließlich auch getan, und zwar "von vorne bis hinten", und überhaupt sei er schon viel zu alt, um auf Gerüchte zu reagieren, "und Sie sollten es auch sein".

Letzteres war an die Journalistenrunde gerichtet, die wissen wollte, was er denn von Ceta und Brexit halte. Auf jeden Fall dürfe Europa - und damit meint er nicht zuletzt sich selbst - jetzt auf keinen Fall die Arbeit einstellen. Wenn das geschehe, dann könnten die Schwachmatiker im Rat ihren Dreck selber machen, er jedenfalls werde seinen Job hinschmeißen und dann eben in der Wirtschaft etwas weiterbringen, wo er noch dazu mehr verdiene. Und ganz nebenbei prognostizierte er den Briten ein Politchaos, eine gesalzene Rezession und auch den verbliebenen EU-27 einen Wachstumsdämpfer.

Österreich hat die Wahl zwischen Schweden und Balkan

Keine gravierenden Folgen erwartet der EU-Spitzenvertreter hingegen für die Machtbalance innerhalb der EU-27. Die Briten hätten ihren ordnungspolitischen Einfluss zuletzt ohnehin nicht genutzt. Dies könnte nun eine Chance für Schweden, die Niederlande und auch Polen sein (allerdings nur für ein weniger nationalistischeres), als liberale Gegengewichte zum etatistischen Frankreich und dem Süden. Und Österreich? Wien müsse sich entscheiden, ob es eher Balkan sein wolle oder Schweden, wobei am ehesten natürlich wäre, wenn Österreich "mehr Schweden auf den Balkan" exportieren würde.

Zuflucht ins Pathos sucht dagegen Währungskommissar Pierre Moscovici. Ein Franzose kann wohl auch gar nicht anders. Er will Europa im Angesicht der Populistengefahr "neu erfinden". Sicherheit und Grenzkontrollen, mehr Investitionen in das Humankapital, um so den Jungen bessere Chancen zu ermöglichen, und schließlich eine Stärkung der Eurozone. Da ist er wieder dieser Bruch, der sich durch fast alle Gespräche in Brüssel zieht: Die Krux Europas liegt darin, dass, um die drängendsten Probleme seiner Bürger zu lösen, eigentlich mehr statt weniger Integration nötig wäre. Zumindest in den großen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Asyl-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Doch jede substanzielle Änderung der Verträge würde unweigerlich eine Lawine an Referenden in einzelnen Mitgliedstaaten auslösen, die angesichts der herrschenden euroskeptischen Großwetterlage fast unmöglich zu gewinnen sind. Die Aussicht auf mehr Europa würde also das bestehende Europa hochgradig gefährden.

Es ist dieses Paradoxon, das die Menschen in der Brüsseler Machtzentrale verzweifeln lässt. Sie sind überzeugt: Die Integrationspause, nach der sich die Bürger in den Mitgliedstaaten sehnen, kann sich Europa eigentlich nicht leisten - wirtschaftlich, politisch und sozial. Die Streitereien darüber, wer nun Ceta, das Handelsabkommen mit Kanada, ratifizieren soll - die EU-Institutionen oder die nationalen Parlamente - erscheint aus Brüsseler Sicht geradezu kindisch. Schließlich sei das eine so demokratisch wie das andere, findet Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn. Dass man das außerhalb von Brüssel auch anders sehen kann, kann man hier nicht verstehen.

Genau hierin liegt mit ziemlicher Sicherheit eines der größten Probleme der Union.