Die Corona-Neuinfektionen übertreffen die Rekordwerte vom November 2020. Dabei war damals noch niemand geimpft. Wie gibt es das?
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Der Rekord bei Corona-Neuinfektionen in Österreich passierte am 13. November 2020, am Samstag war das Land aber mit 9.943 neuen bestätigten Fällen deutlich darüber. Mit 359 lagen zwar nur etwas mehr als halb so viele Covid-Patienten auf Intensivstationen. Dennoch ist die Lage alarmierend, speziell zumal im Nachbarland Deutschland die Infektionszahlen absolute Spitzenwerte erreicht haben, obwohl auch dort anders als im Vorjahr um die 60 Prozent zwei Mal geimpft sind. Wie gibt es das? Wirkt die Impfung doch weniger gut als angenommen? Hält die Immunität noch kürzer an und ist die Delta-Variante noch gefährlicher als bisher bekannt war?
Wie oft bei komplexen Geschehen hängt auch der Pandemieverlauf an einer Kombination von unterschiedlichen Faktoren, die gegeneinander wirken. Punkt eins: "Im Vorjahr hatten wir mit dem Original-Virus zu tun, bei dem eine infizierte Person drei weitere angesteckt hat. Die Delta-Variante ist aber doppelt so infektiös", sagt der Molekularbiologe Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnolgie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien zur "Wiener Zeitung".
Punkt zwei: "Im Herbst 2020 wusste jeder und jede, dass sie dem Virus de facto ausgeliefert waren, weil es noch keine Impfung gab und die Gesellschaft wesentlich vorsichtiger war", führt er weiter aus. Heute seien geimpfte Personen unvorsichtiger als im Vorjahr, da sie davon ausgehen würden, dass sie ohnehin geschützt sind. Zugleich hätte sich "eine Ermüdung mit dem Einhalten von Maßnahmen" eingestellt. "Den Menschen wurde praktisch systematisch die Karotte vor die Nase gehalten, indem immer wieder versprochen wurde, dass die Lage unter Kontrolle käme, wenn man Osterruhe, Weihnachtsruhe und sämtliche Lockdowns durchhalten würde. Das sind aber alles verkürzte Wahrheiten, die der Komplexität der Situation nicht gerecht werden", erklärt Elling. Und kommt zu dem - besonders sensiblen - Punkt Nummer drei, indem er bestätigt: "Wie sich zeigt, stecken sich auch die Geimpften viel häufiger an, als wir bisher wussten."
Geimpfte mit 25-prozentiger Chance auf Ansteckung
Diesbezügliche Erkenntnisse hatte kürzlich auch die deutsche Biochemikerin und Publizistin Christine Berndt bei einer Diskussionsrunde im deutschen Sender ARD erläutert. "Anfangs dachten wir, Geimpfte seien sehr sicher, und von ihnen geht nicht viel aus. Aber es mehren sich Daten, die zeigen, dass gerade mit größerem Abstand zur Impfung die Geimpften im Infektionsgeschehen wohl doch eine Rolle spielen", sagte sie: "Sie spielen am Ende zwar wahrscheinlich eine sehr viel geringerer Rolle als Ungeimpfte, aber noch fehlen die Daten."
Konkret geht es hier um eine britische Studie, die im Fachjournal "The Lancet" publiziert wurde, bei der die Ansteckungsgefahr unter Familienmitgliedern im gemeinsamen Haushalt verglichen wurde. Das Ergebnis: Wenn sich ein Mitglied eines Haushaltes mit Covid-19 ansteckt, haben Ungeimpfte eine Chance von 38 Prozent, sich ebenfalls zu infizieren, und Geimpfte eine Chance von 25 Prozent. "Für Geimpfte ist die Situation somit zwar besser, aber nicht um Welten besser", sagt Elling: "Da die meisten Infektionen im Haushalt passieren, wird das Virus durch die Impfung zwar abgebremst, aber es ist überhaupt nicht weg."
"Durch die Impfung wird die Handbremse gezogen"
Warum das so ist, erläutert Ursula Wiedermann-Schmidt, Mitglied des Nationalen Imfgremiums (NIG). "Eine Impfung, die intramuskulär gegeben wird, schützt an der Eintrittspforte der Schleimhaut weniger stark, als es ein nasal verabreichter Impfstoff täte. Daher können Viren den Nasen- und Rachenraum sehr wohl besiedeln. Jedoch bilden Geimpfte gegenüber Ungeimpften eine viel geringere Viruslast aus, weil die Antikörper vom Blut zu den Schleimhäuten diffundieren", sagt sie zur "Wiener Zeitung".
Weiters seien durch das Vakzin geschützte Personen kürzer infektiös als Ungeschützte. "Durch die Impfung wird die Handbremse gezogen", sagt Wiedermann-Schmidt mit Bezug auf eine weitere Studie in "The Lancet", wonach geimpftes Gesundheitspersonal - auch wenn sie sich infiziert haben - eine geringe Transmissionsrate innerhalb der Familie aufweist.
Obwohl das alles recht enttäuschend klingt, gibt es doch noch Hoffnung: Diese Woche hat das Clalit Research Institute in Tel Aviv eine Studie zu den Auffrischungsimpfungen, die in Israel seit Mitte Juli angeboten werden, präsentiert. Die Ergebnisse sind durchaus ermutigend: Die Sieben-Tage-Inzidenz ist zwischen 15. September und 2. November von mehr als 800 auf unter 50 gefallen.
Verglichen wurde die Wirksamkeit des Impfstoffs von Biontech/Pfizer, bei 728.321 dreifach Geimpften und ebenso vielen zweifach Geimpften, die ihre letzte Dosis fünf Monate zuvor erhalten hatten. Es zeigte sich, dass sich die Schutzwirkung vor einem schweren Covid-Verlauf nach dem dritten Stich gegenüber jenem von zweifach Geimpften deutlich erhöhte. Während in der Gruppe der Drittgeimpften 29 mit Corona infizierte Menschen in die Klinik mussten, waren es in der Gruppe der zweifach Geimpften 231.
Seit vergangener Woche ist die dritte Impfung in Österreich laut Empfehlung des NIG in begründeten Ausnahmefällen bereits vier Monate nach der zweiten Dosis möglich. Zu den Ausnahmen zählt eine zweimalige Impfung mit einem Vektor-Impfstoff, der Antritt einer längeren Reise oder ein besonders hohes Expositionsrisiko. Laut der Empfehlung soll beim dritten Stich ein mRNA-Vakzin gegeben werden, da der Körper auf diese am effizientesten mit der Bildung von Antikörpern reagiere.
Zur Erinnerung: Von den in Österreich erhältlichen Impfungen haben sich die Pharmaunternehmen Pfizer/Biontech und Moderna mRNA-Impfstoffen verschrieben. Boten-RNA (mRNA) wird künstlich dabei hergestellt und mit einem Steckbrief des Virus versehen, der in die Zellen geschleust wird, damit sie Antikörper bilden. mRNA-Impfungen sind sehr reaktiv und können vorübergehend starke Reaktionen auslösen, dafür haben sie mit 95 Prozent eine besonders hohe Wirksamkeit.
Welche Kombinationen besonders gut schützen
Die Pharmakonzerne AstraZeneca und Johnson & Johnson bieten virale Vektorimpfstoffe. Als Träger fungiert ein Erkältungsvirus, das nicht krank macht, weil ein Stück seines Genoms entfernt wurde. Der Ausschnitt wurde durch Information des Sars-CoV-2-Spike-Proteins ersetzt. Im Körper geben die viralen Vektoren den Zellen die nötige Information, um das Gebilde als fremd zu erkennen und zu bekämpfen. Vektorimpfstoffe sind zu 75 bis 80 Prozent wirksam und schützen etwas weniger lang.
Die dritte Impfdosis boostet die Wächter des Immunsystems gegen Sars-CoV-2. Sie treibt die Antikörper nach oben mit dem Ziel, dass eine patente und länger anhaltende Immunantwort entsteht. Ein ähnliches Prinzip wird bei gängigen Tot-Impfstoffen verfolgt. Laut Experten ist davon auszugehen, dass dritte mRNA-Vakzine genau so gut wirken wie es etwa Zecken-Auffrischungsimpfungen tun. Sehr wohl aber werde die Wirksamkeit auch des dritten Stichs davon abhängen, ob sich das Virus ein weiteres Mal sehr dramatisch verändert.
Als erwiesen gilt, dass Kreuzimpfungen von Vektor- und mRNA-Vakzinen tatsächlich wirksamer schützen, als wenn durchgehend die Vektor-Technologie verabreicht wird. "Auf zwei Mal AstraZeneca folgt ein mRNA-Impfstoff", sagt Wiedermann-Schmidt. Auch wer schon bei den ersten beiden Malen die Boten-RNA gegen Covid bekommen hat, bekomme in der Regel beim dritten Mal in den Impfstraßen homologe Vakzine, also ebenfalls Boten-RNA. "Ich gehe von einer guten Wirksamkeit auch gegen Delta aus, egal, ob man zwei Mal mit Vektor und ein drittes Mal mit mRNA oder alle drei Mal mRNA-geimpft ist", sagt die Vakzinologin.
Zur exakten Höhe der Antikörper, die eine sichere Wirksamkeit vermitteln, gebe es jedoch nach wie vor kein Schutzkorrelat. Derzeit würde man aber von hohen neutraliserenden Antikörperspiegeln auf einen guten Schutz gegen die derzeit zirkulierende Variante" schließen.
EMA prüft auch Vektorimpfstoff zur Auffrischung
Wiedermann-Schmidt informiert weiters: Beim RNA-Vakzin von Moderna sei als dritte Impfung die halbe Dosis der ersten beiden zugelassen. Darüber hinaus empfiehlt das NIG, den Moderna-Impfstoff generell erst bei Personen ab 30 Jahren anzuwenden "aufgrund von Signalen, dass es bei bei Jüngeren zwischen 18 und 25 Jahren, die Moderna bekommen, häufiger als bei Pfizer/Biontech" zu Fällen von einer akuten Entzündung des Herzmuskelgewebes (Myokarditis) kommen könne.
Zugleich bestätigt aber die Europäische Arzneimittelagentur EMA die Wirksamkeit von Moderna. "Durch die Booster-Dosis, die nur die Hälfte der Dosis der Primärserie ist, ist zu einem 80-fachen Anstieg der Neutralisierung gegen die Delta-Variante im Vergleich zu den Werten vor dem Booster gekommen", sagte der Leiter der Impfstoffstrategie der EMA, Marco Cavaleri, am Donnerstag im Rahmen eines Presse-Briefings.
Höhe des Schutzes hängt von Gesundheitszustand ab
Die EMA prüft zudem die Zulassung von AstraZeneca als Auffrischungsimpfung. Nachdem sie grünes Licht für mRNA-Booster-Impfungen gegeben hatte, legte der Pharmakonzern Daten vor, "die eine Erweiterung der Verwendung als Booster-Vakzine hervorbringen könnte", betonte Cavaleri. "Wir werden nun besprechen, ob diese Daten für eine Zulassung ausreichen, oder ob wir weitere Beweise benötigen."
Schon bald könnte ein außerdem weiterer Impfstoff den Markt bereichern - nämlich jener des US-Herstellers Novavax. Schon in den kommenden Wochen könnte die EMA dieses Vakzin auf Proteinbasis genehmigen, kündigte Cavaleri an. Von den vier Impfstoffen, die derzeit geprüft werden, habe Novavax die Daten zur Herstellung eingereicht. Die Technologie hinter dem Protein-Impfstoff wird bei anderen Vakzinen schon lange eingesetzt, wie etwa bei der Grippeschutzimpfung.
Es bleibt hinzuzufügen, dass der Schutz einer Impfung, auch bei der dritten Dosis, stark davon abhängt, wie alt die Personen sind und ob es Grunderkrankungen gibt, und dass das Virus im Winter virulenter ist als im Sommer. Möglicherweise könnte die Pandemie mit einer jährlichen Auffrischungsimpfung im Herbst stabil unter Kontrolle gebracht werden, wagt Ulrich Ellling eine Prognose über die stets und im Moment offenbar ganz besonders ungewisse Zukunft.