Lissabon · Portugal sei ein Land, so heißt es zuweilen, in dem nie etwas passiert. In jener Nacht zum 25. April 1974 begaben die Portugiesen sich zur Ruhe wie am Ende jedes anderen Tages. | Niemand ahnte, daß am nächste Morgen für das Land eine neue Zeit anbrechen würde. Nur einige junge Offiziere saßen in ihren Kasernen gespannt vor dem Radio. Als der Kirchensender "Radio Renascenca" | die Erkennungsmelodie, das verbotene Lied "Grandola, Vila Morena", spielte, wußten sie: Der Umsturz, der als die "Nelkenrevolution" in die Geschichte eingehen sollte, konnte beginnen.
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Die Bewegung der Streitkräfte (MFA) hatte den Putsch vor 25 Jahren gut vorbereitet. In nicht einmal vier Stunden besetzten die Aufständischen das Fernsehen, den Flughafen und alle
strategisch wichtigen Plätze in Lissabon. Die Regierung der rechtsgerichteten Diktatur schien im Tiefschlaf zu liegen. Ministerpräsident Marcelo Caetano rieb sich den Schlaf aus den Augen, als der
Polizeichef ihn weckte mit den Worten: "Herr Präsident, auf den Straßen herrscht Revolution."
Das Regime, das Antonio de Oliveira Salazar errichtet und das Portugal fast 50 Jahre lang im politischen Dämmerzustand gehalten hatte, brach in 19 Stunden zusammen. Noch am Abend des 25. April trat
Caetano die Macht an den General Antonio de Spinola ab.
Auf dem Rossio-Platz steckte eine junge Frau einem Soldaten eine Nelke in den Gewehrlauf. Blumenverkäufer machten es ihr nach, und so bekam die Revolution ihr Sinnbild. Hinter dem Staatsstreich
standen linke Hauptleute, die in den Kolonialkriegen in Angola, Mozambique oder Guinea-Bissau eingesehen hatten, daß die Kolonien für Portugal nicht zu halten waren.
Was als Militärputsch begann, wurde rasch zu einer Revolution. Die Menschen stürmten auf die Straßen und verbrüderten sich mit den Soldaten. In Portugal herrschte Aufbruchstimmung. Die Buchläden
füllten sich mit bis dahin verbotener Literatur, Landarbeiter besetzten Latifundien, Banken und Schlüsselindustrien wurden verstaatlicht. Unter den westlichen Staaten kamen Befürchtungen auf, das
NATO-Land Portugal könnte ins östliche Lager abdriften.
Aber schon bald taten sich Risse in der MFA auf. Die Offiziere waren sich einig gewesen über den Sturz der Diktatur, hatten aber kein Programm für das, was danach kommen sollte. In gut zwei Jahren
hatte Portugal sechs Regierungen und erlebte zwei gescheiterte Putschversuche.
Die wilde Phase endete nach der Niederschlagung einer Meuterei linker Truppenteile im November 1975. Nun setzten sich die gemäßigten Kräfte durch. Die MFA wurde entmachtet, linksstehende Offiziere
aus Schlüsselstellungen entfernt. 1976 wurde General Ramalho Eanes zum Staatspräsidenten gewählt. "Wir hatten die Illusion, von einem Moment auf den anderen die Welt radikal zu verändern",
sagte der Ex-Major Melo Antunes kürzlich, der als der Ideologe der MFA gegolten hatte. "Aber wir mußten einsehen, daß unsere Träume nur zum Teil realisierbar waren."
Der Chefstratege der "Nelkenrevolution", Oberstleutnant Otelo Saraiva de Carvalho, zog das Fazit: "Die Revolution war weder ein Erfolg noch ein Fehlschlag. Wir leben heute in einer Demokratie, die
zwar nach meiner Ansicht schlecht funktioniert, aber immerhin. Die Kolonien wurden in die Unabhängigkeit entlassen, stürzten aber in blutige Bürgerkriege." Der einstige Revolutionsheld wurde 1987
wegen Zugehörigkeit zu einer Terrorgruppe zu 18 Jahren Haft verurteilt und 1996 begnadigt.
Heute spielt die "Nelkenrevolution" im öffentlichen Leben Portugals kaum noch eine Rolle. Die Helden von damals treten wenig in Erscheinung, die Verstaatlichungen wurden rückgängig gemacht und
sozialistische Zielsetzungen aus der Verfassung gestrichen. Es herrschen stabile demokratische Verhältnisse, die Wirtschaft im einstigen Armenhaus Europas boomt.
Von den sozialen Utopien haben die Portugiesen sich längst abgewandt. Man sagt, sie interessierten sich lieber für die drei großen "F" wie Fado (Volksmusik), Fatima (Religion) und Fußball.