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Welle der Gewalt in der Türkei

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv
Eine demokratische Lösung für den Kurdenkonflikt verlangen Protestanten bei einer Kundgebung in Ankara zur Unterstützung der prokurdischen DTP. Foto: reu/Bektas

Verfassungs gericht berät über ein Verbot der prokurdischen Partei. | Rückschlag für Initiative zur Lösung des Kurdenkonflikts droht. | Ankara. Während Premier Recep Tayyip Erdogan in Washington war, galt das Interesse des Kurdenpolitikers Ahmet Türk Ankara. Zwar besprach der türkische Ministerpräsident mit US-Präsident Barack Obama auch die Möglichkeiten, gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak vorzugehen, ein Thema, das Türks prokurdische Partei DTP stark beschäftigt. Doch in Ankara entschied sich die Zukunft der Fraktion. Vor dem türkischen Verfassungsgericht begann das Hauptverfahren im Verbotsprozess gegen die DTP. Separatistische Tendenzen und Unterstützung der als Terrororganisation eingestuften PKK werden der Partei vorgeworfen.


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Derartige Verbotsverfahren sind nichts Neues in der Türkei - und die Europäische Union hat das entsprechende Gesetz bereits öfter kritisiert. Erdogans Regierungspartei AKP selbst war noch im Vorjahr von einem Prozess betroffen; kurdische Parteien wurden schon mehrmals aufgelöst. Doch das jetzige Verfahren fällt in eine Zeit, in der ein Verbot fatale Folgen haben könnte.

Es könnte nämlich ein Rückschlag für die unter Mühen gestartete sogenannte Demokratisierungsinitiative der Regierung sein. Den Millionen Kurden im Land - die ihre Sprache bis 1991 in der Öffentlichkeit nicht gebrauchen durften - sollen mehr Minderheitenrechte zugesprochen werden, was nicht zuletzt auch die EU verlangt. Kurdischsprachiges Fernsehen, kurdische Fakultäten an Universitäten sind geplant.

Aufregung um Öcalan

Einmal mehr betonte Premier Erdogan, den Konflikt beenden zu wollen, in dem durch Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK in den letzten 25 Jahren fast 40.000 Menschen getötet worden waren. "Dies ist ein Staatsprojekt und sein Gegenüber sind die 72 Millionen Bürger der Türkei", erklärte er.

Doch das Projekt ist ins Stocken geraten, überschattet von neuer Gewalt. Ultranationalisten geißeln die Vorhaben als Pläne zur Zersetzung des Staates. Und die DTP distanziert sich zunehmend von dem Prozess, den sie zunächst unterstützt hatte. Stattdessen pocht sie immer mehr auf die Miteinbeziehung des ehemaligen PKK-Führers Abdullah Öcalan.

Der ist zwar im Gefängnis, verurteilt zu lebenslanger Haft. Doch Öcalans Meinung sei dem kurdischen Volk wichtig, meint DTP-Vorsitzender Türk. So kam es in den vergangenen Tagen auch zu Protesten vor allem im Südosten der Türkei, nachdem Öcalan in ein neu errichtetes Gefängnisgebäude verlegt worden war und über die verschlechterten Haftbedingungen geklagt hatte. Bei einer Demonstration in Diyarbakir ist am Sonntag ein 23-jähriger Student durch einen Schuss in den Rücken getötet worden.

66 tote Zivilisten

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation IHD sind in den ersten neun Monaten des Jahres im Osten und Südosten des Landes 66 Zivilisten von Soldaten, Polizisten oder Dorfwächtern getötet worden.

Ebenso vergeht kaum eine Woche, in der nicht Soldaten sterben. Sieben von ihnen kamen am Montag bei einem Angriff aus dem Hinterhalt um. Etliche Beobachter sehen darin keinen Zufall sondern einen Versuch, den Friedensprozess zu torpedieren.

In dieser Atmosphäre haben die Verfassungsrichter auch noch über eine mögliche Schließung der DTP zu beraten. Mindestens sieben der elf Richter müssten dafür sein. Im Falle eines Verbots werden die 21 Abgeordneten das Parlament wohl verlassen, kündigte Türk bereits an. Vorgezogene Parlamentswahlen wären nicht ausgeschlossen.

Bis jetzt haben sich die Kurden noch nach jedem Parteiverbot in einer neuen Formation gesammelt. Doch ein Verbot macht die Gefahr einer neuerlichen Eskalation der Gewalt in der Türkei kaum geringer.