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Wellenreiten statt Enthauptungen

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Ein Hoch auf den Eskapismus: leichte Sommerlektüre als Entlastung von schwerwiegenden Angelegenheiten.


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Eskapismus hat diesen Sommer in den USA eine spezielle Anziehungskraft, wenn man von den Gräueltaten des Islamischen Staats genug hat, vom Atomabkommen mit dem Iran und Donald Trumps Präsidentschaftskampagne. Als Entlastung von solch schwerwiegenden Angelegenheiten empfehle ich "Barbarian Days", ein herrlich eskapistisches Buch über das Surfen, vom New Yorker Schriftsteller und Journalisten William Finnegan. Finnegan beschreibt Wellen als etwas Lebendiges, geformt von Winden, Strömungen, Sandbänken, Riffen und Unwettern.

Von seinem Surfbrett aus deutet er den Ozean: Dann ist er Meteorologe, Wasserbauingenieur, Kartograf und Künstler zugleich. Er prahlt nicht mit seinen Taten. Er erzählt uns von der Angst, die er manchmal hatte, und von den Wellen, die ihm zu groß waren. Ein paar Mal ging er weg, ohne zu surfen, mit einem Gefühl der Scham. Das Buch besteht aber auch aus Bildern von Finnegan auf Monsterwellen, dreimal so groß wie er. "Big Surf ist traumhaft", schreibt Finnegan: "Entsetzen und Begeisterung kommen und gehen und drohen, den Träumer zu überwältigen. Eine überirdische Schönheit ist in diesem ungeheuerlichen Schauplatz bewegten Wassers, in der Gewaltigkeit, allzu wirklichen Explosionen und dem Himmel. Ich spüre immer eine heftige Ambivalenz: Ich möchte nur hier sein und gleichzeitig überall anders."

Was das Buch zu einer perfekten Sommerlektüre macht, ist die Art, wie es uns in die Leidenschaft des Autors zieht und uns einlädt, unserer eigenen Exzentrizität zu frönen. Finnegan ist ein Weltklassesurfer, wie Kolumnist Tom Friedman ein Spitzengolfer ist, Energieminister Ernie Moniz Verteidiger in der Senior-Fußballliga und Milliardär Warren Buffett ein toller Bridgespieler. "Barbarian Days" erinnert auch daran, wie verrückt die Leute in den 1960er und 1970er Jahren waren, als die Weltordnung auseinanderfiel.

Besonders gut finde ich Finnegans Beschreibung, wie er sich bemühte, sein privilegiertes Leben abzuwerfen, und herausfand, dass es unmöglich war zu entkommen. "Reiche, weiße Amerikaner in einer armen Umgebung, das konnte einfach nie in Ordnung sein. Auf unentrinnbare Art waren wir die Nutznießer, und das wussten wir, und das verlangte nach Bescheidenheit." Einige seiner frühen journalistischen Arbeiten beschreibt Finnegan als eine Art Wiedergutmachung. Beim Surfen wirkt Finnegan wie unter Zwang. Journalismus mag seine Berufung sein, aber das Surfen geht tiefer. Es bietet Finnegan die Gelegenheit, sich in etwas Schönem und Mächtigem zu verlieren. Er vergleicht diese Erfahrung an verschiedenen Stellen mit Sex und Religion. Für die Anhänger ist Surfen Transzendenz.

Ein weiteres Plus dieses eskapistischen Buches ist, dass es den inneren Barbaren, der in den meisten von uns steckt, hochleben lässt. Dieses Streben nach Abenteuer ist in den USA von besonderem Wert - eine Eigenschaft, die für viele Ausländer das ausmacht, was an unserer sonst eitlen, gewaltsamen und oft anmaßenden Kultur liebenswert ist. Am besten sind wir (oder sicherlich am amerikanischsten), wenn wir rastlose, risikofreudige, wellenreitende Obsessive sind.

Übersetzung: Hilde Weiss