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Weltpolitik vor 200 Jahren

Von Christoph Rella

Reflexionen

Am 18. September 1814 begann der Wiener Kongress mit dem Ziel, Europa neu zu ordnen - aber viele Entscheidungen zur territorialen Neuordnung waren schon davor gefallen.


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Als sich die Großmächte am 18. September 1814 - vor 200 Jahren - das erste Mal im Palais am Ballhausplatz trafen, um die Tagesordnung für den Wiener Kongress zu beschließen, waren bereits viele wichtige Entscheidungen von der Realpolitik vorweggenommen worden. Von einigen Ausnahmen wie der polnisch-sächsischen Frage abgesehen.

Napoleons Erbe

Von 1792 bis 1814, mehr als zwei Jahrzehnte lang, hatten sich nahezu alle europäischen Staaten in wechselnden Koalitionen auf unzähligen Schlachtfeldern bekämpft und schwere wirtschaftliche und politische Verwüstungen hinterlassen. Auslöser dieses Völkerringens war der Aufstieg des Feldherrn, Konsuls und späteren Kaisers Napoleon Bonaparte gewesen, der seine Truppen bis an alle Enden des Kontinents - nach Portugal, Süditalien und Russland - geführt hatte. Dabei waren mehrere seit dem Mittelalter bestehende Länder, darunter die Union Polen-Litauen, die Republik Venedig oder auch die südlichen Niederlande, für immer von der Landkarte gelöscht, Jahrhunderte alte Einrichtungen wie das römisch-deutsche Kaisertum abgeschafft sowie neue Staaten samt Filialen der Familie Bonaparte errichtet worden. Im Frühjahr 1814, wenige Monate nach der richtungsweisenden Völkerschlacht von Leipzig, war vom napoleonischen Erbe in Europa (und am kolonialen Schauplatz) nicht mehr viel übrig. Neben den Großmächten Österreich, Preußen, Großbritannien und Russland schwangen sich in der Folge nun Schweden, die Niederlande, die deutschen Staaten und die USA zu Nachlassverwaltern des Grande Empire auf.

Tatsächlich wurden die meisten Territorialfragen, die anlässlich der ersten Tagsatzung im September in Wien zur Verhandlung standen, bereits im Vorfeld geregelt. Noch während der im April abgedankte Kaiser der Franzosen in seinem Fürstentum auf Elba Quartier bezog und vielleicht bereits über seine Rückkehr aus dem Exil nachdachte, wurden in den Hauptstädten Europas die Grenzen neu gezogen, Monarchien restauriert, Verfassungen verabschiedet - und bisweilen Kriege geführt.

Grundlage für diese politischen, diplomatischen und militärischen Nachwehen bildeten die Erkenntnisse aus jenen Verträgen, welche die Alliierten in den Friedenskongressen von Kiel (Jänner 1814), Châtillon (März) und Paris (Mai und Juni) zu Papier gebracht hatten. Die Spielregeln waren verhältnismäßig einfach: Bis zuletzt mit Napoleon verbündete Nationen wie Dänemark, Sachsen, Polen (Herzogtum Warschau) oder das Vize-Königreich Italien wurden bestraft, die Anhänger der Koalition wiederum belohnt.

Der Hauptverlierer

Eine Sonderstellung nahm hingegen der Hauptverlierer ein. Anstatt Frankreich zu demütigen und das Land zu zerpflücken, hat man dem im Juni 1814 neu eingesetzten König Ludwig XVIII. - so wie zuvor Napoleon (der allerdings abgelehnt hatte) - die Grenzen von 1792 garantiert und versichert, dass Paris keine Kriegsentschädigungen zu zahlen habe.

Diese Ritterlichkeit hatte einen Grund. Nachdem sich die Quadrupelallianz, bestehend aus Österreich, Preußen, Großbritannien und Russland, in einem Geheimabkommen in Paris verpflichtet hatte, künftig nur noch im Interesse des Mächtegleichgewichts zu handeln und keine Alleinherrschaft à la Napoleon mehr zuzulassen, sollte der Verlierer milde gestimmt und langfristig wieder in das Konzert der Mächte aufgenommen werden.

Einen nicht unwesentlichen Anteil am Gelingen dieser Strategie hatte Frankreichs Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand, der noch bei dem für Herbst 1814 geplanten Friedenskongress in Wien eine bedeutende Rolle spielen sollte. Trotz großer Empörung unter den restlichen Verbündeten sollte sich an der Entscheidung, den Großmachtstatus Frankreichs wiederherzustellen, nichts mehr ändern. Auch bei den Verhandlungen in Wien nicht. Ganz im Gegenteil.

Den im Vergleich zu 1792 größten Gebietszuwachs hatte ohne Zweifel das Königreich Großbritannien und Irland zu verzeichnen. Es ist ein vergessenes Detail der Geschichte, dass die Briten bis 1814 nicht nur in Europa (Helgoland, Malta, Ionische Inseln), sondern auch in Übersee strategisch wichtige, teils riesige Territorien hatten dazugewinnen können. Und das vor allem auf Kosten Frankreichs und der einst besetzten Niederlande, die erst als Batavische Republik und dann als Königreich Holland (mit Napoleons Bruder Louis an der Spitze) firmiert hatten.

Kolonialinteressen

Tatsächlich dachte der britische Außenminister Robert Stewart Viscount Castlereagh, als er am 13. September 1814 in Wien eintraf, nicht im Traum daran, alle im Krieg erworbenen Kolonialgebiete - darunter die französischen Zuckerinseln Dominica, St. Lucia und Tobago oder das 1806 eroberte südafrikanische Kapland und die Insel Ceylon - ihren ursprünglichen Besitzern zurückzugeben. Um sicher zu gehen, dass der Kongress am Status quo in den Kolonien nichts ändern würde, hatte London bereits im Vorfeld mit Amsterdam ein Übereinkommen getroffen, wonach der neue Fürst, Wilhelm I. von Oranien-Nassau, mit Belgien, Luxemburg und der Königswürde entschädigt werden sollte.

Genau genommen waren von den Alliierten aber ohnehin keine Proteste zu erwarten, stand doch die Abmachung ganz im Einklang mit den Bestimmungen des Ersten Pariser Friedens, wo man den Niederländern immerhin eine "Vergrößerung" ihres Staatsgebiets in Aussicht gestellt hatte. Und das konnte nur auf Kosten Belgiens gehen. Ein dementsprechender Vertrag, der unter anderem auch die Rückgabe der übrigen von den Briten eroberten niederländischen Kolonien (u.a. in Indonesien) regelte, wurde am 13. August 1814 unterzeichnet.

Die Delegierten des Kongresses in einer historischen Darstellung. Abbildung: Hutton-Deutsch Collection/Corbis

Und die Engländer taten gut daran, mit den Niederländern rasch ins Reine zu kommen, bot doch der koloniale Schauplatz in diesem Sommer aus Sicht Londons alles andere als ein Bild des Friedens.. Denn während in Europa zum großen Teil die Waffen schwiegen und alle Augen auf Wien gerichtet waren, tobte in Amerika, allen voran im Gebiet der großen Seen, ein unerbittlicher Krieg zwischen britisch-kanadischen Kolonialtruppen und der US-Armee. Man kann diesen Konflikt, der 1812 von den USA vom Zaun gebrochen worden war und als britisch-amerikanischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist, als "Abschiedsgeschenk" Napoleons an die englische Marine verstehen. Die hatte nämlich seit Jahren vergeblich versucht, den Seehandel zwischen Amerika und dem von Napoleon besetzten Europa mit Gewalt zu unterbinden, indem sie nicht nur die atlantischen Häfen blockierte, sondern auch vor der Küste US-Schiffe aufbrachte und ihre Ladung kontrollierte.

Ein Sieg der USA

Mehr als zwei Jahre sollte dieser Krieg dauern und erst im Sommer 1814 mit der Eroberung und Plünderung der US-Hauptstadt Washington durch britische See. und Land-Streitkräfte in eine entscheidende Phase eintreten. Der Konflikt endete mit einem Patt. Zwar konnte die US-Regierung ihr eigentliches Ziel, die Okkupation Kanadas, bis zum Friedensschluss von Gent im Dezember nicht erreichen, als Kriegsgewinnler gingen die Vereinigten Staaten aus der napoleonischen Ära allemal hervor. Immerhin hatte man nicht nur die mächtigste Seemacht jener Zeit auf Abstand gehalten, sondern auch durch den günstigen Kauf des westlichen Mississippi-Gebiets von Frankreich das US-Staatsgebiet verdoppelt. Bis heute gilt der Louisana-Purchase von 1803 als das größte (und lukrativste) Grundstückgeschäft der Geschichte.

Nun war der Konflikt in Nordamerika nicht der einzige Schauplatz, wo sich im Sommer 1814 noch einmal militärische Nachwehen aus der napoleonischen Ära bemerkbar machten. Grund für einen anderen Krieg, der, rund 1700 Kilometer von Wien entfernt, bis Mitte August in der skandinavischen Taiga zwischen Norwegen und Schweden ausgetragen wurde, war eigentlich eine Niederlage gewesen - nämlich jene des Königreichs Dänemark. Weil die Regierung in Kopenhagen bis zuletzt an seinem Bündnis mit Frankreich festgehalten hatte, hatte sie im Frieden von Kiel im Jänner 1814 die Abtretung Norwegens an den östlichen Nachbarn zur Kenntnis nehmen müssen. Allein die Norweger dachten nicht daran, den Vertrag zu akzeptieren und rüsteten, nachdem sie am 17. Mai eine Verfassung verabschiedet und den dänischen Statthalter Christian Friedrich auf den norwegischen Thron gesetzt hatten, zum Krieg.

Der Zeitpunkt war klug gewählt, war doch der Wächter des Kieler Abkommens, England, sowohl in Frankreich als auch in den USA noch militärisch gebunden. Als am 26. Juli 1814 die Feindseligkeiten aufgenommen wurden, standen den rund 30.000 norwegischen Freiwilligen 45.000 gut ausgerüstete und im Kampf (gegen Napoleon) erfahrene schwedische Soldaten gegenüber. Nach kaum vier Wochen war der Spuk auch schon wieder vorüber und man einigte sich am 14. August in der Konvention von Moss auf einen dauerhaften Frieden. Norwegen verlor zwar sein Königtum, wurde aber innerhalb der Personalunion mit Schweden formell unabhängig.

Am Wiener Kongress hingegen sollte das skandinavische Intermezzo, zumal ja alles entschieden war, keine Rolle mehr spielen. Und auch sonst war die zukünftige Ordnung Europas bereits vor Beginn der Verhandlungen weitgehend geklärt. Im Fall des Kaisertums Österreich hatte sich Kanzler Clemens Wenzel von Metternich, der im März 1814 in Châtillon der Abtretung Belgiens (an die Niederlande) sowie der Arrondierung der einst vorderösterreichischen Besitzungen durch Baden, Württemberg und Bayern zugestimmt hatte, bereits um Ersatz umgesehen - und zwar in Italien. Noch im April wurden die Provinzen Venetien, Lombardei und Parma, die 1810 in dem von Napoleon geschaffenen Vize-Königreich Italien aufgegangen waren, sowie das früher österreichische Großherzogtum Toskana von kaiserlichen Truppen besetzt. Im Juni 1814 wurde unter dem Jubel der Bevölkerung die Besitznahme Tirols, Istriens und Dalmatiens durch Kaiser Franz I. verkündet.

Zwei kritische Fragen

Angesichts der realpolitischen Faktenlage blieben dem Wiener Kongress mit Ausnahme der Beratungen über die Zukunft der deutschen Staaten, die 1815 im Deutschen Bund zusammengeschlossen werden sollten, eigentlich nur noch zwei schwierige Territorialfragen zu klären: Was geschah mit Polen, also jenem Territorium, das zwischen 1772 und 1795 zwischen den Nachbarn Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt worden war? Und wie wollte man mit Sachsen, das bis zuletzt Napoleon die Treue gehalten hatte, verfahren?

Metternich verhieß die Tatsache, dass beide Staaten seit 1813 von russischen und preußischen Truppen besetzt waren, nichts Gutes, fürchtete er doch, dass ein Verbleib der Gebiete bei den Besatzern das Gleichgewicht zwischen den europäischen Großmächten ernsthaft gefährden würde.

Tatsächlich war die Sorge angesichts der großen Gebietsgewinne, die Russland und Preußen zuletzt verzeichnet hatten, nicht unbegründet. Während der russische Zar Alexander I. sein Herrschaftsgebiet bis nach Finnland, Bessarabien, dem Kaukasus und Polen hatte ausbreiten können, waren die Preußen erst in Sachsen und im Jänner 1814 in die seit 1793 französisch kontrollierte Rheinprovinz (Département de la Roer) einmarschiert.

Als Draufgabe wollten sich Alexander wie auch der preußische Souverän Friedrich Wilhelm mit der polnischen beziehungsweise sächsischen Königskrone belohnen. Zumindest hatte man das so am 15. Februar 1813 in einem in der polnischen Stadt Kalisch geschlossenen Geheimabkommen festgeschrieben.

Neue Kriegsgefahr

Aber die Rechnung ging nicht auf. Der Kongress hatte noch nicht richtig begonnen, da drohte Metternich, der ein Bündnis mit Großbritannien, Frankreich, Bayern, Hannover und die Niederlande in Aussicht hatte, mit militärischer Intervention. Preußen, das seit Friedrich II. auf einen vollständigen Erwerb des Nachbarlandes Sachsen gehofft hatte, musste sich beugen. Hilfe von Russland war nicht zu erwarten,

Zar Alexander wollte keinen Krieg, um die Aussicht auf den (nach wie vor sicher scheinenden) polnischen Thron nicht zu verlieren. Sein Vorschlag, Sachsen zu teilen und Berlin mit dem Rheinland, der Pfalz und dem Gebiet um Posen abzuspeisen, sollte von Preußens Unterhändler in Wien, Carl August von Hardenberg, daher nur widerwillig akzeptiert werden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Westverschiebung Preußen nach Westen als diplomatischen Erfolg zu verkaufen und mit nationalem Pathos zu verbrämen.

Und das polnische Königtum? Das ging unter dem Titel "Kongresspolen" doch noch in Personalunion an den russischen Zaren, der hoch gepokert und gewonnen hatte.

Dieser Artikel ist der erste Teil einer in zwangloser Folge erscheinenden "extra"-Artikelserie, in der verschiedene Verfasser in den kommenden Monaten unterschiedliche Aspekte des Wiener Kongresses untersuchen werden.Christoph Rella, geboren 1979, ist promovierter Geschichtswissenschafter und arbeitet als Redakteur bei der "Wiener Zeitung".

Wiener Kongress 2014
Am 18. September 2014, genau 200 Jahre nach dem Beginn des historischen Wiener Kongresses, beginnt im Kongresssaal des Bundeskanzleramts die internationale Konferenz "Der Wiener Kongress und seine globale Dimension".
Diese Tagung, die bis zum 22. September dauern soll, wird von der in Wien ansässigen "Forschungsgesellschaft für den kontinentalamerikanischen und karibischen Raum" (FGKK) organisert, und zwar zusammen mit der Universität Wien und anderen Institutionen.
Das Ziel der Veranstaltung ist es, neue und aktuelle Perspektiven zur Geschichte des Wiener Kongresses zu gewinnen. 250 international renommierte Forscherinnen und Forscher werden in Referaten den Kongress als Ereignis von globalem Ausmaß verständlich machen.
Mehr unter:
Website "The congress of Vienna"