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Weltreise 1/5: Welt und Weltgeschichte

Von David Th Ausserhuber

Leserforum
Weltreise, erster Akt: "Angekommen", kommentiert am 01.11.2017Weltreise, zweiter Akt: "Gesetzt". Am Ufer des Toba-Sees in Sumatra

David Th Ausserhubers internationaler Gastkommentar


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Auf Weltreise gehen. Jetzt? Ist das nicht zu spät? Oder noch zu früh? Vielleicht ist es das alles. Ich darf beruhigen: Meine Weltreise begann nicht etwa hier, nicht etwa jetzt. Tatsächlich liegen schon über siebzig Länder hinter mir. Länder, die, als ich sie bereiste, teils noch ganz andere waren und mitunter massive Veränderungen durchlebten. Syrien, ja, das ist das beste Beispiel dafür. Eine Legende, diese orientalische Gastfreundschaft, einmal erlebt, nie vergessen. Wie ins Gedächtnis eingebrannt - und schon nach nicht einmal einem Jahrzehnt unerreichbare und unwiederholbare Geschichte.





Damals: Die ersten Schritte ins Nachbarzimmer, dann hinter den Eisernen Vorhang





Ich glaube, meine Weltreise begann mit meinem ersten Schritt. Schon das Nachbarzimmer war wie eine andere Welt für mich, die es zu entdecken galt. Bewusst wurde mir jedoch erst Jahre später, was es mit dem Überqueren von politischen Grenzen auf sich hat. Meine Eltern pflegten mit mir samt Familie nach Ungarn zu fahren, damals in den 80ern wahrhaft ein noch ganz anderes Land. Ewig lange Staus, ewig langes Ausfüllen von Listen an der Zollstelle, ewig lange Kontrollen an der Grenze, und das alles nur um hinter dem Eisernen Vorhang in spartanisch eingerichteten Supermärkten in kaltem Leuchtstoffröhren-Licht unwiderstehliches "Gesztenyepüré" zu ergattern, was sich am Küchentisch zu Hause dann für mich als Kind wie durch ein Wunder ausnahmslos immer als Kastanienpüree entpuppte. Ja, dort, in Sopron, begann das, was ich als das Erleben einer anderen Welt bezeichne, als Reise in eine so völlig andere Welt wahrnahm.





War das damals auch der Start meiner Weltreise? Im Rückblick sehe ich: Sie hatte überhaupt gar keinen Startpunkt. Sie hat auch keine Ziellinie. Meine Weltreise beginnt oder endet nicht, sie verändert sich jeweils nur in der Art ihrer Fortsetzung. Genausowenig wie ich es kaum ausreichend finde, von einer Welt-Reise zu sprechen. Vielmehr angebracht ist es, von einer Reise in die aktuelle Weltgeschichte zu sprechen. Oder in den aktuellen Weltzustand. So stark ist alles in Veränderung, dass Länder manchmal nach kurzer Zeit nach Zeitpunkt der Ausreise schon gar nicht mehr dieselben sind.





Ganz nebenbei, zwischendrin: Arabischer Frühling





Ägypten 2011. Die Rucksackreise nach Ostafrika begann mit einem zweitägigen Zwischenstopp in Kairo. Mein Flug war anstrengend, tja, kalte europäische Frühjanuartemperaturen in Wien, warme sonnige Temperaturen in Nordafrika, mein Bedürfnis nach Schlaf wuchs pro gereister Flugmeile immens. Ich entschied mich ganz bequem fürs Auschlafen, erst Nachmittag ins Ägyptische Museum zu gehen. Ohne Erfolg: an gerade jenem Tag war Einlass nur vormittags. Keine große Tragik, denke ich. Zwar ist mein Aufenthalt in Kairo zu kurz für einen erneuten Anlauf ins Museum, jedoch laufen mir die jahrtausendealten Kunstschätze ja nicht gerade eilends davon. Am Rückweg nach Europa könnte ich einfach einen erneuten Zwischenstopp einlegen, nach Äthiopien, Djibouti, Kenia, Malawi, Tansania, Sansibar. Doch alles sollte anders kommen. Der später so genannte Arabische Frühling sollte nur Tage später in Kairo anbrechen. Während mich am Horn von Afrika abwechselnd Höhenkrankheit, Sonnenstich und die Bekanntschaft mit Ratten im Schlafraum beschäftigten, war Kairo nach nur wenigen Tagen eine völlig andere Stadt geworden, selbst das Ägyptische Museum wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. EgyptAir buchte wegen des Trubels alle Flüge um, Kairo sah ich nur mehr mit starker Vorstellungskraft im entfernten Winkel aus dem Flugzeugfenster. Manches war nur Stunden nach meiner Abreise bereits Geschichte.





Nepal, New York: Digital Augenzeuge einer sich verändernden Welt(-Geschichte)





Die Reise nach Nepal - nur wenige Kalender nach meinem Besuch in Kathmandu und Pokhara würde diese Schönheit am Himalaya eine andere sein. Naturkatastrophen, wie im Falle Nepals das Erdbeben im Jahre 2015 verändern das Land, seine Bewohner. Seine Besucher. Welches Gefühl darf der Weltreisende da empfinden? Glück? Es hat mich nicht getroffen? Freude? Ich hab es vorher noch gesehen, als es noch ganz war? Mitleid? Ich leide mit den Leidenden auf YouTube mit? Sentimentalität? Bleibt alles anders?





Ähnlich Gefühle regten sich bei mir, als ich irgendwann an einem 11. September am Bildschirm in Zeitlupe die Zwillingstürme einstürzen sah. In Unfassbarkeit erstarrte ich für einen ewig scheinenden Moment, bevor ich mir ins Gedächtnis das Foto zurückrufen konnte. Ja, das Foto, in welchem ich als Teenager voller Stolz und doch so unsicher wirkend vor der Skyline New Yorks posierte. Das Foto meiner ersten Reise, unserer ersten Reise als Familie nach Übersee, nach New York, ein Stück Familiengeschichte. Urplötzlich dann Legende, manifestiert auf meinem Foto. Das zweite Mal in New York ein Jahrzent später wollte ich gerade an dieser Stelle mit der Lücke namens Ground Zero kein Bild von mir.





Schlüsselerlebnis im winterlichen Karakorum





Ja, es gab ihn, den Changing Point. Das berühmte Schlüsselerlebnis, das bewirkte, dass ich, dass man, eigentlich nicht so wie bisher weiterreisen kann. Es sollte mich prägen: In gewissen Gegenden ist freundlich gemeintes Besucherlächeln eher unangebracht, so respektvoll man sich dadurch auch erkenntlich zeigen möchte.





Es geschah irgendwann nach Marokko, Kanada, Russland, Mazedonien, Iran, Georgien, Oman, Indien, Nordirland, Malawi, Transnistrien: Irgendwo nach der 50er Marke von einmal mehr, einmal weniger international anerkannten Ländern, jedoch dann alle fast irgendwie immer allein bereist, denn ja, die nie begonnene und nie endende Reise wurde zu meinem auserkorenen Hobby, zu meinem Privatleben, jedenfalls irgendwann dann, im Winter, am Weg von Usbekistan nach Nepal, auf dem Karakorum vorbei an China, vorbei an Pakistan und anderen Ländern, meist am Landweg, irgendwann dort geschah es.





Die Kälte forderte, am Karakorum Highway fiel Schnee. Trotzdem wollte ich an meiner Reiseroute so gut wie möglich festhalten, Land und Leute samt ihrer Kultur kennenlernen, Berge und Natur erleben. Dass ich wegen verfrühten Wintereinbruchs das Stück vom chinesischen Ürümchi nach Islamabad in Pakistan fliegen musste, um dann weiter über Wagah ins indische Amritsar zu kommen, sollte mich nicht aufhalten, trotzdem die kulturelle Vielfalt am Karakorum in beiden Ländern zu erfahren, ein Stück weit zu bereisen.





Der Schnee war es jedoch nicht, was den Menschen dort die große Sorge bereitete. Im Gegenteil, die Kinder freuten sich, gab es für sie deswegen doch an diesem Tag schulfrei. Sie waren es, die mich fröhlich umzingelten, in ihren bunten Schalwar-Kamis-Kleidern den Ort zeigten, ein Ort im Hochgebirge, am pakistanischen Karakorum gelegen, wo ich inzwischen gelandet war. Die Kälte machte mir zu schaffen und ich war gedanklich damit beschäftigt, wo ich denn raschest ein Hotel mit heißer Dusche finden kann. Sollte man mir diesen Gedanken an den Augen ablesen haben können, müsste er wohl ziemlich arrogant gewirkt haben. Ohnehin wurde er durch ein kurzes Gespräch mit einem jungen Studenten gleich abgelöst.





Er begann ein freundliches, jedoch nicht ganz ungezwungenes Gespräch. Erdbeben, Erdrutsch, ewiglange Stromausfälle im Winter, das alles hatte das Dorf gerade hinter sich. Ob ich denn von einem Hilfstrupp entsandt wurde. Im Augenwinkel begann ich ein Stück zerstörte Straße zu erkennen, in meinem Kopfkino lief plötzlich ein anderer Film. ... Sollte ich in diesem Film eine Rolle spielen? Wie heißt denn dieser Film? Irgendwas mit Reiseabenteuer, irgendwas mit Marco Polo? Oder soll das eine Geschichtsdoku sein, mit mir als zu interviewenden Augenzeugen? Für all das hatte ich keine Antwort, ich war mit dem Gefühlsmix auf der Straße Richtung Weltreise überfordert. Ja, ich war Weltreisender, und sah und sehe mich nur als Reisenden. Als solcher fand ich die heiße Dusche schließlich, an einem anderen Ort.





Eine Weltreise führt nun mal vorbei an Weltzuständen





Der Nachgeschmack dieses Gesprächs ging mir einige Zeit nach der heißen Dusche nicht aus dem Kopf. Es wandelte sich in mir schließlich zum Schlüsselerlebnis. Eine Weltreise führt nun mal vorbei an Weltzuständen, das ist nun mal die Welt mit all ihren Facetten, die es zu bereisen gibt. Und trotz aller Pragmatik: So sehr ich mich selbst als Weltreisender sehen mag, meine Anwesenheit als Mensch, als Mit-Mensch, an bestimmten Orten der Welt, der Weltgeschichte, weckt Erwartungen. Ständiges Kommen und Gehen wirkt in bestimmten Momenten von unerwartet hereingebrochenen Weltzuständen ignorant und arrogant, also zur Abwechslung auch mal an gewissen Orten bleiben? Mich auf Zustände einlassen?





Selbst zurück in Europa beschäftigte mich diese Frage immer noch. Umzingelt von Unmengen am Arbeit am nachts schön beleuchteten Schreibtisch, flackerte irgendwann meine mich zufriedenstellende Antwort auf.





Eine Weltreise verändert sich in der Art ihrer Fortsetzung





Nein, nicht einlassen auf Zustände. Vielmehr, und sehr wohl, einlassen auf Menschen, die auf der Reise auf mich zukommen. Auf einer Reise um die Welt und in die sich ständig verändernde aktuelle Weltgeschichte. Auf dieser Weltreise ohne Beginn und ohne Ende, sich schlicht verändernd in der Art ihrer Fortsetzung.