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Weltrekord bei Inflation und Morden

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".
© privat

Venezuelas "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist vor allem an hausgemachten Irrtümern gescheitert.


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Die Venezolaner besingen längst nicht mehr den Kondor, denn über dem an Erdölreserven reichsten Land der Welt kreist der Pleitegeier. Dieses Drama zeichnete sich noch nicht ab, als Präsident Hugo Chávez 1999 seine Landsleute und die Welt mit dem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" verblüffte: Damit die Elendsviertel verschwinden, gehen die Erlöse aus dem Erdöl in sozialen Wohnbau, kostenlose medizinische Betreuung der Armen, Subventionen der Lebensmittelpreise und umfassende Bildungsprogramme. Chávez siedelte 180.000 Familien auf verstaatlichtes Ackerland um, damit sie Lebensmittel produzieren und Venezuela nicht mehr zwei Drittel dieser Güter importieren muss. Obendrein handelte er mit seinem "sozialistischen Bruderland" Kuba ein Gegengeschäft aus: 3,6 Millionen Fass Erdöl pro Jahr zum Drittelpreis des Weltmarktes für 12.500 Ärzte und 30.000 Lehrer (Geheimdienstexperten nicht eingerechnet).

Allerdings vernachlässigte Chávez die verarbeitende Industrie derart sträflich, dass seinen Nachfolger Nicolás Maduro und vor allem das Volk der Ölpreisverfall von 100 auf 30 Dollar mit verheerender Wucht traf, spielt doch Erdöl 95 Prozent der Devisen ein. So sprach Maduro vom "Katastrophenjahr" 2015 und dekretierte den wirtschaftlichen Notstand. Das hilft aber nicht gegen hausgemachte Probleme: Missmanagement in der Industrie, dirigistische Wirtschaftspolitik und völlige Fixierung auf das Erdöl. Ebenso wenig nützt es den darbenden Venezolanern, dass Maduro die Misere dem Preiskampf zwischen den Erdölgiganten USA und Saudi-Arabien zur Last legt.

Bei weltrekordverdächtigen rund 140 Prozent Inflation stehen die Venezolaner täglich stundenlang vor leeren Geschäften in der Hoffnung, dass ein Laster Nachschub an Mehl, Fleisch, Butter und vielleicht sogar Milch liefert. Gut zwei Drittel der Güter des üblichen Warenkorbs sind kaum oder gar nicht mehr erhältlich - wobei laut Studien 87 Prozent der Bevölkerung nicht genug Geld zum Kauf von Esswaren haben. Tausende durchwühlen die Müllsäcke vor Restaurants oder auf Märkten nach Essbarem. Glückspilze bringen es dabei auf zwei karge Mahlzeiten.

Den Spitälern gehen Medikamente aus, Betriebe sperren zu, weil ihnen mangels Devisen Rohstoffe und Ersatzteilen fehlen. Das trifft die Raffinerien besonders hart und in der Hackordnung das Volk, weil Venezuela Benzin importieren muss und eben erst den Benzinpreis von 0,01 auf 0,6 Dollar je Liter erhöhte.

Das zeitigt sozial verheerende Folgen. Mit neun Morden pro Tag ist Caracas die gefährlichste Stadt der Welt. Leute mit Beziehungen erschleichen Dollars zum amtlichen Vorzugspreis von 10 Bolivares und machen auf dem schwarzen Devisenmarkt daraus 1000 Bolivares. So viel kostet ein Kilo Zucker. Selbst Entführer nehmen als Lösegeld nur Dollars.

Vor 215 Jahren löste Simón Bolívar Lateinamerikas Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft aus. Bolívar befreite seine Heimat Venezuela politisch, Chávez und Maduro zogen daraus nicht die ökonomische Konsequenz: Sie beließen Venezuela in der alles umfassenden Abhängigkeit vom Öl. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" gehört dorthin, wohin Stalins Gegenspieler Trotzkij alle Illusionen wünschte: "auf den Müllhaufen der Geschichte".