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Weltunordnung und Übergang

Von Thomas Seifert

Politik

Die Welt kämpft heute noch mit dem Erbe des Ersten Weltkriegs.


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Schon am Vorabend jenes 29. Juni, den das katholische Land Österreich als "Peter und Paul" immer feiertäglich hielt, waren viele Gäste aus Wien [nach Baden] gekommen. In hellen Sommerkleidern, fröhlich und unbesorgt, wogte die Menge im Kurpark vor der Musik. Der Tag war lind; wolkenlos stand der Himmel über den breiten Kastanienbäumen, und es war ein rechter Tag des Glücklichseins. (...)

So hielt ich unwillkürlich im Lesen inne, als plötzlich mitten im Takt die Musik abbrach. (...) Irgendetwas musste dieses brüske Abbrechen veranlasst haben; (...) Es war, wie ich nach wenigen Minuten erfuhr, die Depesche, dass Seine kaiserliche Hoheit, der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die zu den Manövern nach Bosnien gefahren waren, daselbst einem politischen Meuchelmord zum Opfer gefallen seien. (...) Der Sommer war schön wie nie und versprach noch schöner zu werden; sorglos blickten wir alle in die Welt. Ich erinnere mich, wie ich noch am letzten Tage in Baden mit einem Freunde durch die Weinberge ging und ein alter Weinbauer zu uns sagte: "So ein’ Sommer wie den haben wir schon lange nicht gehabt. Wenn’s so bleibt, dann kriegen wir einen Wein wie nie. An den Sommer werden die Leut‘ noch denken!"

Aber er wusste nicht, der alte Mann in seinem blauen Küferrock, welch ein grauenhaft wahres Wort er damit aussprach."

Diese Zeilen schrieb der Wiener Schriftsteller Stefan Zweig in seiner monumentalen Autobiografie "Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers" darüber, wie er von den Schüssen des 19-jährigen Serbischen Nationalisten Gavrilo Princip auf Thronfolger Franz Ferdinand an der Franz-Joseph-Straße in Sarajewo am 28. Juni 1914 erfuhr – im Zeitalter vor elektronischen Massenmedien übrigens am Tag danach.

Und in diesem Sommer, den Zweig beschreibt, begann der Grande Guerre, Great War, der Erste Weltkrieg. Mehr als 60 Millionen Soldaten aus fünf Kontinenten waren an dieser Orgie der Gewalt beteiligt, von dem beinahe jeder Sechste nicht mehr zurückkommen würde. Und Millionen von denen, die das Stahlgewitter überlebt hatten, kehrten zum Teil furchtbar verstümmelt zu ihren Familien zurück.

1914 und das Ende der Gewissheiten

"Ich werde nie begreifen, wie es passieren konnte", sagte die britische Schriftstellerin und Journalistin Rebecca West zu ihrem Mann, dem Bankier Henry Maxwell Andrews, als sie 1936 auf dem Balkon des Rathauses von Sarajevo standen, wie sie in ihrem Buch "Schwarzes Lamm und grauer Falke. Eine Reise durch Jugoslawien" schreibt. Und Douglas Feith, einer der Architekten des Irak-Kriegs im Kabinett von Präsident George W. Bush, erzählt dem Intellektuellenblatt "New Yorker", über seine Erkenntnis, die er bei einem Besuch in Wien gewonnen hatte: "Ich ging die Ringstraße entlang, mit ihren beeindruckenden Gebäuden, von denen die meisten 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gebaut worden sind. Diese Gebäude wurden als Hauptquartier eines Welt-Imperiums gebaut – für die Ewigkeit. Doch diese Menschen hatten keine Ahnung, dass die Zerstörung ihres Imperiums bevorstand."

Und eine weitere Lehre ist bis heute von Relevanz: wie leicht man in sinnlose Kriege hineinschlittert – und die hätte auch Douglas Feith und seine Neocons bedenken sollen. Der in Großbritannien lebende australische Historiker Christopher Clark schreibt in seinem Buch "Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog": "In Anbetracht der Wechselwirkungen im ganzen System hingen die Konsequenzen jeder Maßnahme von den Reaktionen anderer ab, die wegen des undurchsichtigen Entscheidungsprozesses kaum im Voraus berechnet werden konnten." Die Krise, die zum Krieg führte, war "multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne".

Vor solchen multipolaren und interaktiven Krisen steht die Welt heute auch – auch wenn die Gefahr eines Mega-Konflikts dank der tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Bilder von den Atompilzen über Hiroshima und Nagasaki gebannt scheint.

Die komplexe Konflikt-Gemengelage von heute ließe sich am besten mit dem Untertitel von "Syriana", dem US-Politthrillers mit George Clooney beschreiben: "Everything is connected" – alles hängt zusammen" – hieß es in dem Film düster. Und genauso ist es: Alles hängt zusammen. Iran will eine Entspannungspolitik mit dem Westen, Washington will eine Annäherung an Teheran, weil es seit dem 11. September 2001 der Arabischen Welt und vor allem Saudi-Arabien immer weniger vertraut. Russland ist zwar seit dem Sturz des Schah Mitte 1979 ein treuer Verbündeter des Iran, blickt aber voller Argwohn auf die Annäherungspolitik Teheran-Washington: Schließlich würden bessere Beziehungen Teherans zum Westen dem Iran ungeahnte Gas-Export-Chancen nach Europa eröffnen, die Russland – dann harter Konkurrent am Gasmarkt – nicht recht sein können. Der in den Irak überschwappende Bürgerkrieg in Syrien hat nun den Iran und die USA auf dieselbe Seite in diesem Konflikt gebracht: Im Kampf gegen die rücksichtslos kämpfenden Sunni-Jihadisten der Daish (Isis – Islamischer Staat im Irak und in der Levante) rücken die Schiiten des Iran, des Irak, das Assad-Regime in Syrien und die USA zusammen. Russland steht aber auch auf Seiten Syriens, nicht zuletzt, weil Moskau radikale Islamisten im Kaukasus fürchtet.

Öl- und Gaspolitik spielt auch im Ukraine-Konflikt eine Rolle. In dieser Auseinandersetzung stehen Moskau und die Nato einander unversöhnlich gegenüber. Doch Europa ist abhängig von Russlands Gas und dem Kapital russischer Oligarchen und die USA brauchen Moskaus Unterstützung bei den Atomverhandlungen mit dem Iran, bei dem Teheran zu einer streng friedlichen Nutzung seiner Nuklearkapazitäten verpflichtet werden soll. Geostrategen sprechen von Triangulation, wenn darum geht, divergierende Interessen unter einen Hut zu bringen. Freilich: In der neuen Weltunordnung hat man es nicht mit einem Macht-Triangulum – Dreieck –, sondern mit einem Polygon zu tun.

Das Erbe des I. Weltkriegs: ein Hundertjähriger Krieg

"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vorbei", schreibt William Faulkner in seinem Drama "Requiem für eine Nonne" aus dem Jahr 1951. Und im Jahr 2014, 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer ist das noch immer eine wahre Erkenntnis. Denn Geschichte wird nicht durch einzelne Punkte auf einer Zeitleiste skizziert, sondern in einer kontinuierlichen Erzählung geschrieben. Und so lappen längst vergangene Ereignisse in die Gegenwart.

Der Wiener Historiker und Leiter des Österreichischen Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner, sagt in einem Interview mit dem "extra", dem Wochenend-Supplement der "Wiener Zeitung": "Heute sind wir dem Jahr 1914 viel näher, als wir es noch vor 30 oder 40 Jahren waren. Damals gab es im Unterschied zur heutigen multipolaren Welt eine bipolare Stabilität, aber auch da war man in einer Phase der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit."

Tatsächlich: Die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und dem Zerfall der Sowjetunion vom 26. Dezember 1991 Geschichte. Danach kam der kurze unipolare Moment einer unangefochtenen Weltführungsmacht USA, der von George W. Bush verspielt wurde. Denn die Al-Kaida-Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, D.C. am 11. September 2001 trafen Amerika ins Mark und Bush führte das Land 2003 ins Irak-Desaster und 2008 in die Lehman-Pleite. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren nun Verwundete Staaten von Amerika.

Das Ende der Pax Americana im Nahen Osten markiert gleichzeitig den Beginn für die Arabellion, den Arabischen Frühling, der im Winter 2010 in Tunesien begonnen und sich rasch zu einer Revolte in der gesamten Region ausgeweitet hatte.

Dabei hat das Chaos im Nahen Osten seinen Ausgang im Ersten Weltkrieg. Die Entente hatte beschlossen, nachdem die Mächte Frankreich und Großbritannien beim direkten Angriff auf das Osmanische Reich bei der Dardanellen-Schlacht von Gallipoli eine Schlappe einstecken mussten, die Osmanen von der Peripherie her zu schwächen: Agenten wie der britische Archäologe Thomas Edward Lawrence, der später als "Lawrence von Arabien" bekannt wurde, ermunterten die Arabischen Stämme zur Revolte gegen die osmanischen Herrscher.

Doch entgegen den Versprechungen der Entente-Mächte bekamen diese Völker nach dem Krieg nicht ihre Freiheit, sondern Briten und Franzosen teilten sich die aus dem Osmanischen Reich herausgelöste Beute im bereits 1916 vom englischen Diplomaten Mark Sykes und seinem französischen Gegenüber François Georges-Picot ausgehandelten Sykes-Picot-Abkommen unter sich auf. Die Franzosen bekamen das Mandat für den heutigen Libanon und für ein Territorium, das bis zum Tigris im heutigen Syrien reicht. Großbritannien herrschte über Mesopotamien (Irak), inklusive der ölreichen Provinz Mossul.

Der US-Historiker an der Boston University, David Fromkin, nennt in seinem Standardwerk zur Entstehung des heutigen Nahen Ostens, "A Peace to End all Peace", die Staaten Libanon, Syrien, Jordanien, der Irak, Israel und Palästina "Englands und Frankreichs Kinder". "Dem Nahen Osten wird jener Friede aufgedrückt, ‚der jeden Frieden beendet‘ – für ein ganzes Jahrhundert", schreibt der Journalist Bernhard Zand in einer "Spiegel"-Geschichte, die er mit "Hundert Jahre Krieg" übertitelt hat.

Parallelen von 1914 und 2014: eine Welt im Übergang

"Es gibt viele Parallelen zum Vorabend des Weltkriegs. Damals wie heute war die Gesellschaft im Übergang, geprägt von massiven Verunsicherungen, von einer enormen Jugendarbeitslosigkeit. Und plötzlich tauchen Konflikte wie aus dem Nichts auf. Wie schnell das gehen kann, sehen wir aktuell am Beispiel der Ukraine und der Krim", sagt Maderthaner im "extra"-Interview. Und genauso, wie 1914 Deutschland Großbritanniens Hegemonie herausforderte, strebt heute China nach der Rolle einer Weltmacht. Noch im geschichtsträchtigen Jahr 2014 könnte China die USA puncto Wirtschaftsleistung überholen, sagte der Ökonom Arvind Subramanian vom Peterson Institute im Mai und stützt sich dabei auf Weltbank-Daten. China plant auch, aus dem vom Westen geschaffenen Nachkriegskorsett der Bretton-Woods-Institutionen auszubrechen und will einen Rivalen zur Weltbank und der Asian Development Bank gründen. Bisher fehlen die Instrumente, um das Ringen der beiden Weltmächte um die Vorherrschaft in Asien zu managen.

Schwindende Macht in der multipolaren Epoche

In China spricht Präsident Xi Jinping über den chinesischen Traum, chinesische Intellektuelle sind vom weiteren Aufstieg Chinas überzeugt, genauso wie man in Brasilien und Indien auf den Aufstieg und in Russland auf die Renaissance des Vaterlands baut. Europäer wiederum beklagen die zunehmende Marginalisierung ihres Kontinents auf dem geopolitischen Schachbrett. Aber das ist alles nichts verglichen mit der Besessenheit der amerikanischen Strategen, die darüber diskutieren, ob Amerikas Niedergang verhinderbar, endgültig, vorübergehend oder vielleicht auch nur eine Illusion ist.

So eine Welt des Wandels ist nicht ungefährlich: Charles Kupchan schreibt in seinem Buch "No Man’s World: The West, the Rising Rest and the Coming Global Turn", dass die westliche Ordnung nicht durch eine neue Großmacht oder durch ein dominierendes politisches Modell bestimmt werden wird. Vielmehr finden wir uns in einer "Niemandswelt" wieder: Zbigniew Brzezinski, neben Henry Kissinger eine graue Eminenz der US-Geostrategen, meint dazu in seinem Buch "Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power": "Wir sind in der Post-hegemonialen Weltordnung angekommen". Und Moisés Naím, früherer Minister in Venezuela und Ex-Direktor der Weltbank, schreibt in seinem Buch "The End of Power" über die Gefahr, die heute von Demagogen und Vereinfachern droht, sowie vom Stillstand der Vetokratien, zu denen viele Demokratien verkommen seien. Die Renaissance von politischen Führern mit autokratischen Zügen wie Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin passt da nur allzu gut ins Bild.

Zudem dürfe man nicht vergessen, dass "Non-State-Actors" von Al-Kaida bis Hisbollah die nationalstaatliche Ordnung, die nach dem Westfälischer Frieden entstanden ist, herausfordern, wie der in Österreich geborene Direktor des Liechtenstein Institute on Self-Determination an der Princeton University betont.

Die dreifache Transformation der Welt seit 1989 ist laut dem Politikwissenschaftler Jacques Rupnik an ihr Ende gelangt: Der demokratische Elan der Post-89er-Jahre ist verflogen, der Siegeszug der globalisierten Marktwirtschaft ist mit dem Beinahekollaps des Weltwirtschaftssystems im Jahr 2008 zu einem jähen Ende gekommen. Dazu fordern neue Mächte in Asien und Südamerika die wirtschaftliche Vorrangstellung des Westens heraus. "Das Problem in der heutigen Welt ist nicht nur, dass autoritäre Mächte vorwärts drängen, sondern dass viele Demokratien nicht besonders gut abschneiden", schrieb der US-Politologe Francis Fukuyama Anfang Juni in einem viel beachteten Essay im "Wall Street Journal". Und was nun?

Zeitenwende. Genau wie 1914. Geschichte ist eben nicht nur Vergangenheit, sondern lappt in die Gegenwart. Bleibt zu hoffen, dass man aus dem Sommer 1914 die Lehren gezogen hat.