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Das Verhalten der US-Notenbank hält einem Faktencheck nicht stand.
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Während die globale Zahl der vom Corona-Virus infizierten Personen sich der Schwelle von 100.000 nähert, beginnt auch die Business-Welt ähnlich nervös zu werden wie die Welt der Epidemiologen. Überraschenderweise gibt es viele Gemeinsamkeiten bei der Spurensuche in beiden Welten. Nachgespürt wird einerseits der Kette von Infektionen bei Personen und andererseits der Kette von Zulieferschritten bei Gütern.
Dabei kommt es zu nicht immer verständlichen Reaktionen. Die US-Notenbank senkt den bereits sehr niedrigen Leitzins um einen halben Prozentpunkt, eine geldpolitische Maßnahme, die in dieser Größenordnung zuletzt bei der Finanzkrise von 2008 erfolgte. Begründet wird dieser aufsehenerregende Schritt als vorbeugende Maßnahme zur Abwendung eines Nachfragerückgangs. Die OECD senkt nämlich ihre am Brutto-Inlandsprodukt (BIP) gemessene Wachstumsprognose von 2,9 Prozent auf 2,4 Prozent für 2020 und fügt hinzu, dass eine länger andauernde Coronavirus-Krise diesen Wachstumsindikator auf 1,5 Prozent drücken könnte. Aber sowohl das Verhalten der US-Notenbank als auch die Aussagen der OECD halten einem Faktencheck nicht stand. Es stimmt, dass auf den Aktienmärkten in den USA und in Europa innerhalb einer Woche Wertverluste von rund 11 Prozent zu registrieren waren, das sind rund 6 Trilliarden Dollar an Vermögenswerten. Ähnliche Verluste gab es zuletzt bei der Finanzkrise.
Es ist aber falsch, mit Niedrigzinsen eine Angebotsverknappung in Asien zu bekämpfen, denn mit dieser Maßnahme werden in China die Produktionsbänder nicht wieder angeworfen und die Containerschiffe nicht schneller über die Weltmeere fahren. Dann ist zu fragen, wie relevant der von der OECD verwendete Wachstumsindikator des BIP ist. Schwankungen von einem halben Prozentpunkt scheinen nicht übermäßig spürbar zu sein, werden es aber, wenn man bedenkt, dass darunter die Bereitschaft von Unternehmen für neue Investitionen leiden könnte und der Pharmaindustrie Vorprodukte aus Asien fehlen. Vielleicht ist aber der überraschend eingetretene Coronavirus-Modus so etwas wie ein Lackmus-Test für einen ganz anderen, bisher offensichtlich unterschätzten Indikator unserer Wirtschaft, nämlich der Fähigkeit zu Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen.
Nicht nur die weltweit größten Unternehmungen, von Apple bis Alphabet, beginnen ihre über Kontinente verstreuten Zulieferketten zu überdenken. Die Drohung von Handelskriegen und der Vorwurf von klimaschädigenden Produktionsstrategien sind weitere Motivationen dazu. [Auch die Steuervermeidung dieser Unternehmungen ist infrage zu stellen.] Somit könnte der Coronavirus-Modus eine zwangsverordnete Nachdenkpause über zukunftsfähige Strukturen in unserem Wirtschaftssystem werden.
Die extreme Globalisierung von Zulieferketten könnte durch eine bewusste Relokalisierung abgelöst werden, wofür sich disruptive Technologien, wie 3D-Printing, anbieten. Unerwünschte Abhängigkeiten über mehrere Kontinente, von Erdöl bis zu Pharmaka, könnten nach Europa zurückgeführt werden. Im Windschatten solcher Relokalisierungen würde die Klimapolitik an Glaubwürdigkeit gewinnen.
So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.