Die russische Wirtschaft hält sich besser als erwartet. Die Sanktionen sind aber bei weitem nicht zahnlos.
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Russland dreht weiter am Gashahn, und in Österreich ist erneut eine Debatte darüber entbrannt, ob die EU-Sanktionen ihre Wirkung verfehlen. Und wem sie mehr schaden - Russland oder der EU? So sagte Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer vergangene Woche in der "Kleinen Zeitung", man müsse die Sanktionen überdenken, falls es im Herbst zu Energieengpässen käme.
Russlands Wirtschaft steht sechs Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine und sieben Sanktionspakete später besser da als erwartet. Aber auch deutlich schlechter als vor einem Jahr, sagen Ökonomen. Außerdem ist aus heutiger Sicht völlig unklar, ob Russland den Gashahn in Richtung EU wieder voll aufdreht, sollte das Sanktionsregime aufgehoben werden. Aber dazu später.
Energieexporte boomen
"Die Auswirkungen der Sanktionen sind bisher nicht so dramatisch wie vom Westen erhofft", sagt Vasily Astrov, Ökonom am Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) zur "Wiener Zeitung". Für heuer rechnet der Internationale Währungsfonds (IMF) mit einem Einbruch der russischen Wirtschaft von 6 Prozent. Im Frühjahr war man noch von 10 bis 15 Prozent ausgegangen. "Der volle Effekt der Sanktionen wird erst mittel- und langfristig spürbar sein", meint Astrov. "Und das bringt eine fast vollständige Abkoppelung der russischen Wirtschaft von vielen Weltmärkten."
Astrov sieht drei Faktoren, die derzeit zur Stabilisierung der russischen Wirtschaft beitragen. Zum einen spült der hohe Ölpreis Milliarden in die Staatskassen. Die EU-Staaten zahlen derzeit umgerechnet eine Milliarde US-Dollar täglich für Öl und Gas an Russland. Das hat der Brüsseler Wirtschafts-Thinktank Bruegel kürzlich errechnet. Das angekündigte, aber eben noch nicht in Kraft getretene EU-Ölembargo spielt Russland hier in die Hände. Energieexporte machen fast die Hälfte der föderalen Einnahmen aus, das war schon vor dem Krieg der Fall.
Zweitens ist der Rubel derzeit, trotz Sanktionen und wirtschaftlicher Isolation, so stark wie seit fünf Jahren nicht mehr. Ein Dekret des Kremls verpflichtet "feindliche Staaten", für Energielieferungen in Rubel zu bezahlen, also de facto alle EU-Staaten. Zudem sind die Einfuhren im Zuge der Sanktionen stark eingebrochen, was dazu führt, dass man weniger Devisen für Importe ausgeben muss.
Parallelwirtschaft entstanden
Hinzu kommen Kapitalverkehrskontrollen der russischen Zentralbank. Bürger und Betriebe dürfen also keine hohen Geldbeträge außer Landes bringen oder in andere Währungen umtauschen. Und dann floriert neuerdings auch der Parallelhandel mit westlichen Gütern. Eigentlich sollten technologische und Luxusgüter derzeit gar nicht ins Land kommen. iPhones und Luxusschlitten finden aber, wenn auch zu deutlich höheren Preisen, ihren Weg über Drittstaaten, die sich nicht an den westlichen Sanktionen beteiligen, in den russischen Markt.
"Die Sanktionspakete der EU haben selbst nur kleine Effekte auf die Konjunktur, weil der Handel der EU mit Russland seit 2014 schon deutlich zurückgegangen ist", erklärt Gabriel Felbermayr, Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), auf Nachfrage. "Viel dramatischer sind die Auswirkungen der russischen Gegenmaßnahmen, vor allem die Drosselung der Gaslieferungen. Diese treiben alle Energiepreise massiv hoch, was die Teuerung befeuert und harte sozialpolitische Verwerfungen generiert." Der Großhandelspreis für Gas am Spotmarkt beträgt derzeit fast 280 Euro pro Megawattstunde, der Strompreis im Großhandel klettert auf über 630 Euro pro MWh und könnte im kommenden Jahr - in der Spitzenlast - sogar zeitweise 1.000 Euro erreichen.
Das führt laut Felbermayr zu einem deutlichen Kaufkraftverlust und gefährdet die internationale Wettbewerbsfähigkeit heimischer Betriebe. Ein Lieferausfall "dämpft das Wachstum für 2023 auf jeden Fall. Da fehlt schnell mal ein Prozentpunkt zu dem auch ohne Sanktionen abflauenden Normalwachstum."
Gashahn könnte zu bleiben
Sollte es zu einem völligen Gas-Lieferstopp aus Russland kommen, rechnet das Institut für höhre Studien (IHS) mit einem BIP-Einbruch von circa 3 Prozent pro Jahr, ab dem Zeitpunkt des Lieferstopps. Das allerdings unter der Annahme, dass etwa 15 Prozent Energie bei den Haushalten eingespart wird, es auch unterschiedliche gestaffelte Einsparungen in der Industrie gibt und ein Teil des russischen Gases aus anderen Quellen substituiert wird.
"Derzeit haben wir allerdings noch eine ‚normale‘ Konjunktur, und die Arbeitslosigkeit ist stabil", sagt IHS-Chef Klaus Neusser im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Anders als das russische BIP wird die EU-Wirtschaft heuer wachsen, wenn auch nicht so stark. Und: "Wir sind derzeit auch nahe an einem Lieferstopp." Nach Österreich kommen derzeit zwei Drittel weniger Gas aus Russland, als eigentlich angefordert. Die für die EU-Versorgung kritische Pipeline Nord Stream 1 ist außer Betrieb, wegen Wartungsarbeiten, wie es offiziell seitens Gazprom heißt. Gleichzeitig schließen die EU-Staaten immer mehr neue Energielieferverträge mit anderen Handelspartnern ab. "Mittel- und langfristig könnte sich der Gaslieferstopp als ein Schuss ins eigene Knie für Russland erweisen", meint Astrov. Russland habe sein Image als zuverlässiger Energielieferant verspielt.
"Für Russland ist vermutlich die militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine ein viel größeres Ärgernis als die Wirtschaftssanktionen. Es wäre daher naiv zu glauben, dass ein Ausstieg aus den Wirtschaftssanktionen der EU günstigere Gaspreise sichern würde", sagt Felbermayr. Russland hat schon vor einem Jahr, also vor Kriegsbeginn, begonnen, weniger Gas als eigentlich angefordert nach Europa zu liefern. Gazprom hat auch seine Gasspeicher in der EU vergangenen Sommer nicht wie üblich befüllt und damit den Gaspreis weiter nach oben getrieben.
Dass der Kreml sich weniger um ein Ende der Sanktionen als um militärische Erfolge in der Ukraine bemüht, legen auch die Aussagen eines Kreml-Insiders nahe, die am Mittwoch in den internationalen Nachrichtenagenturen zitiert wurden. Die russische Regierung hoffe zwei Kreml-Insidern zufolge auf einen harten Winter mit Energieengpässen in Europa. Das könnte den Druck auf die Ukraine erhöhen, den mittlerweile seit einem halben Jahr tobenden Krieg zu beenden - zu russischen Konditionen. "Wir haben Zeit, wir können warten", sagt eine Quelle aus dem Umfeld russischer Behörden. "Es wird ein schwieriger Winter für die Europäer."