US-Diplomat spricht über den Fall der Berliner Mauer. | Wien.Nicht nur für die meisten Beobachter, sondern auch für die USA selbst kamen das Ende des Kalten Kriegs und die Wiedervereinigung Deutschlands völlig überraschend. Das machte der ehemalige US-Diplomat J. D. Bindenagel am Donnerstagabend bei der Veranstaltung "Die Revolution 1989. Der Fall der Berliner Mauer und Amerika" in der Kunsthalle Wien deutlich. Bindenagel war zwischen 1988 und 1990 stellvertretender Botschafter der US-Botschaft in Ost-Berlin.
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"Wir hatten noch 1989 geglaubt, wir werden das Ende der Mauer nicht erleben." Sogar im Sommer sei der weitere Verlauf nicht absehbar gewesen. "Wir waren nicht vorbereitet", so Bindenagel. Prinzipiell habe die US-Administration Stabilität und langsame Veränderung in Osteuropa angestrebt. Ein militärischer Zusammenstoß mit der Sowjetunion und das drohende Szenario eines dritten Weltkriegs sollte offensichtlich vermieden werden: "Wir wollten keine Konfrontation."
"Wir glaubten nicht an friedliche Änderung"
Proteste wie der DDR-Arbeiteraufstand von 1953, der Aufstand in Ungarn im Jahr 1956 und der Pragerfrühling von 1968 waren von der Sowjetunion gewaltsam niedergeschlagen worden. Das sei den USA wohl bewusst gewesen. "Wir glaubten nicht an eine friedliche Änderung." Selbst als die Proteste zunahmen und am 9. November die DDR-Grenzen geöffnet wurden, war Vorsicht geboten. Der frisch gewählte Ministerpräsident der Volkskammer, Hans Modrow, schloss Ende 1989 eine Wiedervereinigung dezidiert aus. Auch der heutige SPD-Politiker und damalige stellvertretende Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Manfred Stolpe, habe in einem Gespräch im Dezember 1989 eine Wiedervereinigung abgelehnt. "Stolpe wollte eine Erneuerung der DDR", berichtet Bindenagel.
"Grundsätzlich waren wir für ein vereintes Deutschland, und zwar schon seit Jahrzehnten." Doch zusätzlich kompliziert sei die Lage dadurch gewesen, dass auch der Großteil der vier Siegermächte einer Wiedervereinigung ablehnend gegenüberstand. Am vehementesten wurde sie von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bekämpft. Und nun hatten alle vier Siegermächte nach wie vor Verantwortung für Deutschland, was die Rechtsfrage verkompliziert habe. Der US-Diplomat betont: "Die Entscheidung fiel auf den Straßen."
Auf die Frage eines Zusehers, ob nicht angesichts der maroden Sowjet-Wirtschaft ein Ende absehbar gewesen wäre, meint Botschafter Bindenagel: "Es gab nur Schätzungen. Die offiziellen statistischen Zahlen waren geschönt." Gegenüber der "Wiener Zeitung" bestätigte Bindenagel, dass man natürlich auch andere Quellen, als die offiziellen Sowjet-Quellen zur Beurteilung der Lage heranzog. Es sei aber durchaus möglich gewesen, dass das zerfallende kommunistische Reich über Scheinaktionen das Ende hinauszuzögern versuchte.
"Dass Präsident Michail Gorbatschow nicht einschreiten würde, wussten wir bis zuletzt nicht", erklärte Bindenagel weiter. "Bei der Beurteilung der Lage gab es die politische und die militärische Ebene. Wir beobachteten in Ost-Berlin genau, dass die Soldaten nichts unternahmen, aber das hätte sich jederzeit ändern können."
Zur PersonJ.D. Bindenagel ist Vice President for International Affairs an der DePaul Universität in Chicago. Organisiert wurde sein Vortrag von der US-Botschaft.