Alexander Kluge fand heraus, was am 30. April 1945, als Hitler sich tötete, sonst noch geschah.
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Berlin. (ce) Alexander Kluge war 13 Jahre alt, als Adolf Hitler zur Pistole griff. Er kann sich nicht daran erinnern, dass der Tod des Tyrannen ihn damals beschäftigt hat. Zumal Hitlers Selbstmord nicht offiziell vermeldet wurde. Der Junge war traurig, weil er allein, nur mit etwa Gleichaltrigen, aus dem zerstörten Halberstadt in den Harz verschickt worden war, um dort Unkraut auf Rübenäckern zu zupfen. "Der einzelne Tag ist erinnerungstechnisch ein Niemandsland", heißt es in Kluges Buch "30. April 1945".
Von einer "Stunde Null" war nichts zu spüren. Vielmehr rotteten sich deutsche Truppenteile im Südharz gegen vorgerückte Alliierte zusammen, die sie mit einem Panzervorstoß attackieren wollten. Und Klein-Alexander hatte Sehnsucht nach seiner Mutter, die ihn erst Anfang Juni wieder in die Arme schließen konnte.
Erst der Schäfer
2015 wird der 30. April kein leichter Tag sein. Die ewig Unverbesserlichen werden der siebzigsten Wiederkehr des Todestags des "Führers" gedenken, in Zeitungen wird in verdruckster Sprache daran erinnert werden, und die offizielle Politik wird so tun, als gäbe es den Tag gar nicht als Todestag eines Politikers, dessen man sich schämt. Am "letzten Werktag des Dritten Reiches", so Alexander Kluge, haben Adolf Hitler und seiner Frau Eva Braun im "Führerbunker" sich ihrer Verantwortung entzogen. Erst wurde der Schäferhund eingeschläfert, dann tötete sich das Ehepaar selbst.
Was aber ist an diesem Tag weltweit geschehen? Der 82-jährige Schriftsteller und Filmemacher hat in der ihm eigenen Patchwork-Technik die Vorkommnisse dieses Tages zusammengetragen. Eine faszinierende Chronik ist entstanden. "Es ist eine wirre Landschaft, es ist die anarchistischste Situation, in der sich Deutschland je befand", so Kluge. Aber die Erde drehte sich weiter.
Als Kluge 2010 mit seiner Firma dctp eine TV-Dokumentation über die letzten zwölf Stunden Hitlers koproduzierte, begann er, über das Ereignis nachzudenken. Seine Fantasie kam in Gang, sie katapultierte ihn nach San Francisco. "In den Minuten, die nach Mitteleuropäischer Zeit den Moment umfassen, in dem Hitler die Tür zu seinem Sterbezimmer schließt, putzen sich die Diplomaten, die an diesem Tag in San Francisco über Gründung und Struktur der Vereinten Nationen verhandeln werden, die Zähne, sie duschen, frühstücken und bereiten sich auf den Tag vor."
Neben dem Fiktionalen wird Gehörtes und Geschriebenes, etwa aus Briefen und aus Memoiren, zitiert, werden Ereignisse fingiert, die vermutlich nie stattfanden, und neben Anekdoten stehen konkrete Tatsachen. Was empfand Thomas Mann an diesem 30. April in Kalifornien? Was dachten die Männer der Wehrmacht vor dem müden letzten Gefecht? Was bewegte den britischen Sergeanten, der einen ranghohen deutschen Militär gefangen nahm? Was ersann der Philosoph Martin Heidegger, der am Vormittag ein Seminar abhielt? Warum gab es so viel Bewegung an der New Yorker Börse? Und wie kamen die Flüchtlinge auf dem Weg nach Hause voran?
Im Chaos des nationalsozialistischen Untergangs navigiert sich Alexander Kluge durch einen Wendetag, von dem die wenigsten seinerzeit wussten. Aber er hat gravierende Folgen gezeitigt.
Alexander Kluge: "30. April 1945. Der Tag an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann." Suhrkamp